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Esel

Esel

Titel: Esel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gantenberg
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mir seine Hand auf den Mund. Sie riecht nach Marie, meiner Jacke und etwas, von dem ich gar nicht so genau wissen möchte, was es genau ist.
    »Warte! Ich rate. Ich kann das super. Ich kann alles raten. Ich check’ das einfach. Ein Blick, zack.«
    Jetzt bin ich gespannt.
    »Bulle bist du nicht. Da hast du auch Glück. Gibt zwei Berufe, da krieg’ ich sofort ’n Puls! Bullen und Lehrer. Bei Lehrern noch mehr. Lehrer sind das Letzte.«
    Ich nicke, obwohl ich nun eigentlich starr vor Angst bin.
    Was hat diesen Menschen dazu gebracht, Lehrer noch mehr zu hassen als die Polizei? Mir fallen viele Gründe ein. Ich könnte mich auch hassen, wenn ich auf der anderen Seite wäre. Ich habe viele Dinge getan, die ich nicht hätte tun müssen, und jetzt tun sie mir leid. Aber jetzt ist es zu spät.
    Erinnerungsfetzen tauchen auf: Schüler, die mir mit Rache drohen, Eltern, die mir drohen, Kollegen, die mich schon immer gewarnt haben, meine Eltern, die so gerne gesehen hätten, wie aus ihrem Sohn ein Anwalt wird, aber doch kein Lehrer. Kaputte Reifen … meine Reifen … falsche Verdächtigungen, Rache über Klassenarbeiten, ungerechte Noten, Briefe an Eltern, Briefe von Eltern, Zeugniskonferenzen … Cronenberg würde daraus einen Horrorfilm machen.
    »Ha! Ich weiß, was du bist!«
    Markus verzieht jetzt das Gesicht, und ich schließe die Augen, vielleicht tut es dann nicht ganz so weh, weil man den Schmerz nicht kommen sieht …

21. Man wird, was man war
    Ich war ein ängstliches Kind. Alle Kinder sind ängstlich, aber ich war es besonders. Meine Ängstlichkeit war so extrem, dass selbst meine Mutter besorgt war. Normalerweise mögen Mütter die Ängstlichkeit ihrer Kinder, das gibt ihnen die Möglichkeit, schützend oder beschützend einzugreifen, während es den Vätern meistens vorbehalten ist, die Ängstlichkeit ihrer Kinder weniger ernst zu nehmen. In meinem Fall waren beide Elternteile davon betroffen.
    »Der ist so ängstlich, der hat sogar Angst vor der Angst«, sagte mein Vater einmal im Beisein eines Arztes, der jedoch keinerlei Interesse an mir zeigte. Ich war gerade mal acht Jahre alt, und das ist ein Alter, das für einen Urologen völlig uninteressant ist.
    Meine Mutter suchte nach einer pragmatischen Lösung. Und ihr erster Ansatz war gar nicht mal so verkehrt. Sie setzte mich konsequent jeder Gefahr und Bedrohung aus, die noch einigermaßen überschaubar war. Für sie. Ein Einverständnis meinerseits hatte sie einfach vorausgesetzt.
    Sie ließ mich im Dunkeln einschlafen. Kein guter Plan. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Ich wanderte durch das Haus und ließ keine Gelegenheit aus, irgendwo das Licht anzumachen und Geräusche zu verursachen, die böse Mächte unter der Treppe, dem Wohnzimmersofa oder sonstigen beliebten Verstecken davon abhalten sollten, mich zu fressen oder zu erschrecken. Nach genau zwei Nächten war meine Mutter fix und fertig und zu müde, um auf eine Fortsetzung ihrer undurchdachten Idee zu drängen. Ich bekam mein geliebtes Halogenstandlicht zurück und schlief fortan wieder ein wie eine beleuchtete Nobelkarosse vor dem Präsidentenpalast.
    Fortan beschränkte sie sich auf Therapien bei Tageslicht.
    Sie ließ mich in unserem Garten ein Feuer anzünden, dabei verursachte bereits der Anblick eines Streichholzes bei mir Übelkeit und Schweißausbrüche. Das Experiment ging gründlich schief, denn ein kleiner Windstoß sorgte dafür, dass mein Feuer auf den Nachbarsgarten übergriff und dort ein Baumhaus in Brand setzte. Welches wiederum meinem bis dato einzigen Freund, dem damals schon neunjährigen Timo Pölzer, gehörte, der danach nicht mehr mein Freund sein wollte. Diese Ansicht vertrat er bis zum Ende des vierten Schuljahres und untermauerte seine tiefe Ablehnung mit allerlei Quälereien. Auf dem Schulweg, während der Pausen, im Unterricht und manchmal auch in unserem Garten, den er nur betrat, wenn er Lust hatte, mich auch außerhalb der reinen Schulzeit zu quälen. Meine Aversion gegen Feuer und Streichhölzer und die dazugehörige Angst erklärt sich damit von selbst.
    Auch der Anblick einer Scheibe Fleischwurst verursachte bei mir Angstattacken. Um genau zu sein, war es nicht die Fleischwurst, sondern die Hand, die sie hielt, und der Körper, zu dem sie gehörte. Der massige Körper von Ewald Bruntteck, dem Metzger aus unserem Supermarkt, war für mich ein Sinnbild des Schreckens. In meiner Wahrnehmung war der Kittel dieses Mannes immer blutverschmiert, und in meiner

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