Esel
vor meiner Hand. Wir schauen uns in die Augen. Er blickt neutral, ich ängstlich.
»Alles klar, Friedhelm?«
Er zwinkert, wirklich.
»Guter Junge.«
Mir scheint, das ist genau das, was er hören will. Seine Ohren zucken nach vorne. Das linke zuerst, dann folgt das rechte. Mit ein wenig Einbildung wirkt das wie ein geheimer Code, den es zu entschlüsseln gilt.
Nichts einfacher als das. Ich weiß, was Friedhelm will. »Alles klar.« Und ich beginne, seinen Kopf zu streicheln. Ich verstehe scheinbar wirklich, was er mir sagen will. Und es ist so einfach. Dieser Morgen gehört uns beiden. Nur uns.
Das Handy stecke ich in die Tasche. Friedhelm gibt mir einen knappen Stoß gegen die Hand und setzt dann sein Grasen fort. So einfach kann Kommunikation sein, wenn man sich was zu sagen hat.
Langsam beginne ich meinen Magen zu spüren. Bier zum Frühstück ist vielleicht doch nicht das Richtige, um den Energievorrat für einen ganzen Tag anzulegen. Vielleicht hätte ich auch was essen sollen.
Stattdessen habe ich mich ausgiebig von Markus verabschiedet, der heute in eine andere Richtung marschieren will, ohne Angabe von Gründen. Beinahe kommt es mir vor wie ein kleiner Tod. Abrupt, unangekündigt und nicht nachvollziehbar. Aber ich weiß, dass Markus nicht gänzlich geht, weil etwas von seiner Geschichte bei mir bleibt. Für immer. Mit Steffen und Gundula habe ich Adressen ausgetauscht, mit dem festen Vorsatz, sie auch benutzen zu wollen. Das alles war so intensiv, dass ich keinen Gedanken an Brot, Obst, Müsli oder Ähnliches verschwendet habe. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass man hier außerhalb geschlossener Ortschaften kaum etwas finden kann, das einen satt macht. Es sei denn, man ist ein Esel.
Laut Karte ist Pinzow noch zehn Kilometer entfernt. Der Weg dorthin ist grün markiert. Nett formuliert liegt eine Naturstrecke vor uns. Sachlich korrekt ausgedrückt liegt vor uns … Landschaft. Landschaft. Landschaft.
Für einen Esel ist das ein zehn Kilometer langer MacWalk, mit allem, was den Magen eines Vierbeiners füllt. Für mich ist das die Straße des Hungers. Vielleicht habe ich Glück und finde was. Falls nicht, auch egal, was ist schon Hunger gegen das Gefühl, eine solche Landschaft genießen zu dürfen.
Bilde ich mir das ein, oder ist das da an meiner Wade so was wie ein Muskel? Schade, dass sich hier niemand findet, der mir diese Frage beantworten kann. Es wäre auch zu eitel, um über so was zu sprechen.
»Da staunst du, was, Friedhelm? Das sind keine Waden, das sind Titankraftwerke.«
Friedhelm lässt das unbekümmert. Woher soll er auch wissen, was Titankraftwerke sind. Ich weiß es ja selber nicht, aber es klingt so schön.
»Ja, ja, ich bin wieder in Form.«
Schon ziemlich bekloppt, wenn man damit gegenüber einem Esel angibt. Aber was soll’s, er wird es keinem weitersagen. Esel sind loyal. Und wenn sie es nicht sind, wird es niemand erfahren.
»Sei froh, dass ich nicht zu traben anfang’, dann wär’ aber Schluss mit lustig.«
Friedhelm ist ein wahrer Freund, er lässt sich nicht provozieren und mampft weiter brav seine Gräser und Kräuter.
»Könnte sein, dass ich dich auf tausend Meter locker abhänge, mein guter Freund.« Friedhelm mampft.
»Okay, here we go – it’s time for a challenge. Are you ready, Mister Donkey?!«
Ich schiebe die Funktionshosenbeine noch ein wenig höher, damit die Titankraftwerke noch besser zur Geltung kommen. Modellwaden de Luxe.
»Ready to rumble? Bist du bereit?« Hab’ ich echt schon so viel Bier getrunken? »Oder soll ich dir einen kleinen Vorsprung geben?«
Wenn es für das hier Zeugen gäbe, könnte ich einpacken.
»Auf die Plätze, fertig, los!«
Die ersten 50 Meter nehme ich in vollem Galopp. Meine Beine federn. Die Lunge pumpt sich voll mit Sauerstoff. Ich hätte nie gedacht, dass ich aus dem Stand zu solch einer Geschwindigkeit fähig bin.
Björn Keppler, Gazelle! Da geht noch was!
Ja, tatsächlich, das war erst der Anfang. Mein Rücken wird von einem Schweißfilm überzogen. 100 Meter schon und von Friedhelm keine Spur. Du hast es ihm gezeigt. Du wirst es allen zeigen, deinen Schülern, die dich verspottet haben, deinem Direktor, der dich beharrlich übergeht, wenn es darum geht, Karriere zu machen. Keppler, du Tier. Warum hast du nicht eher gezeigt, was in dir steckt. Die 150-Meter-Marke ist geknackt, und du spürst noch immer keine Erschöpfung, im Gegenteil. Dieser Ast da, der da im Wege liegt, da springst du drüber.
Weitere Kostenlose Bücher