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Esel

Esel

Titel: Esel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gantenberg
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fällt mein Blick auf einen der kleinen Tierschädel. Nur ganz kurz überlege ich, mit dem Kauen aufzuhören, nur ganz kurz, dann erlöst mich Marvin von einem schlimmen Verdacht.
    »Schinkenspeck von Netto. Billig, aber viel Knorpel.«
    »Ach, macht doch nichts. Hauptsache lecker.«
    »War schon lange nicht mehr auf der Jagd.«
    Was für ein Glück. Lieber Schinkenspeck von Netto als Frischware aus dem Wald, deren Reste dann an die Hütte kommen.
    »Ich auch nicht.«
    »Du gehst jagen.«
    »Nein, war nur ein Scherz.«
    »Du bist einer von diesen Eselwanderern, richtig?« Marvin führt den Löffel so langsam zu seinem Mund, dass er bei diesem Tempo den kompletten Tag brauchen wird, um mit seinem indianischen Radkappeneintopf fertig zu werden.
    »Genau, Friedhelm und ich machen die Uckermark-Tour.«
    »Du bist anders als die anderen.«
    »Ach so?«
    »Du bist auf der Reise.«
    »Ja, das ist ja meistens so, wenn man eine Tour macht«, bemühe ich mich, so flapsig wie möglich zu kommentieren, ohne dass es unverschämt klingt oder arrogant.
    »Du bist auf einer Reise zu dir.«
    »Oh. Das sieht man mir an?«
    »Du isst schnell.«
    Das stimmt, ich habe ja auch Hunger.
    »Weil du dich noch nicht gefunden hast.«
    Kann es sein, dass wir uns gerade auf einem völlig falschen Dampfer bewegen? Hier geht es nicht um Finden, es geht um Futter.
    »Man sieht es dir an. Du isst schnell, weil du dich noch nicht gefunden hast.«
    »Ehrlich gesagt, eigentlich esse ich in erster Linie so schnell, weil ich seit gestern nichts mehr gegessen habe.«
    »Ja, aber du hast dich auch gestern nicht gefunden, als du satt warst.«
    Erstens, woher will er das wissen, zweitens, warum interessiert ihn das, und drittens, was soll das. Ich bin froh, dass ich jetzt hier bin. Sehr froh, fast schon dankbar. Aber ich habe keine Lust, zu einem Psychostudienobjekt zu werden. So dankbar kann man gar nicht sein. Und ich erst recht nicht.
    »Ähm, Marvin, darf ich Sie was fragen?«
    »Chavatangawunua.«
    »Ja, natürlich. Also darf ich Sie etwas fragen?«
    »Wir können uns duzen.«
    »Gerne. Was …«
    »… was ich hier mache?«
    Oh, ein Hellseher. »Genau«, sage ich und simuliere nahezu perfekt den völlig Überraschten.
    »… ich helfe dir, dich zu finden.«
    »Natürlich, ist mir schon aufgefallen. Ich meine, was machst du, oder, anders gefragt, was hast du gemacht, bevor du so freundlich warst, mir zu helfen, mich zu finden?«
    Marvin Chavatangawunua muss sich erst mal wieder kurz mit dem Inhalt seines Löffels beschäftigen, der nun endlich seinen Mund erreicht hat. Wahrscheinlich kalt.
    Ich habe meine Radkappe schon fast leer und bewundere, wie ein Mensch mit der Geschwindigkeit eines Braunkohletagebaubaggers seinen Eintopf kaut.
    Da es sich dabei sehr wahrscheinlich um ein indianisches Ritual handelt, frage ich nicht nach, sondern warte, bis Marvin Chavatangawunua mit seinem ersten Löffel fertig ist.
    »Früher habe ich mich damit beschäftigt, mich zu finden.«
    »Interessant.«
    Da hätte ich auch selber drauf kommen können.
    »Und davor, wenn ich fragen darf?«
    Wieder steht zwischen Frage und Antwort ein Löffel Hopi-Eintopf. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, werde ich meine Pensionierung in der Uckermark erleben.
    Marvin Chavatangawunua kaut und kaut und kaut und dann …
    »Davor war ich bei der NVA .«
    »Oh, ja, interessant … in der DDR .«
    Marvin Chavatangawunua nickt.
    »In der ehemaligen DDR «, füge ich korrekterweise hinzu.
    Mich wundert nichts mehr. Ein ehemaliger NVA -Soldat, der jetzt auf Indianer macht, ist hier so normal wie ein entlassener Mörder. Nein, wahrscheinlich ist es nicht normal. Aber ganz offensichtlich ist es völlig normal, dass ich diese Menschen treffe.
    »Oberst.«
    »Wie bitte?«
    »Ich war Oberst.«
    »Oh, das ist aber schon ziemlich weit oben … ist ja fast schon im Rang eines Häuptlings?«
    Marvin Chavatangawunua schüttelt den Kopf, was bei ihm natürlich entsprechend zeitversetzt passiert.
    »Ich war kein Häuptling und werde auch nie einer werden.«
    »War ja auch nur so ein Vergleich.«
    »Wenn, dann würde ich nur gerne ein Friedenshäuptling. Aber dieses Amt wird einem vererbt, und von wem sollte ich es erben. Ich könnte höchstens noch Kriegshäuptling werden. Dieses Amt muss man sich verdienen, durch besondere Taten.«
    Wieder fällt mein Blick auf die Schädel an seiner Hütte. Mit solchen Taten kann er sich den Job als Kriegshäuptling aber abschminken, da muss schon ein bisschen

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