Eskandar: Roman (German Edition)
Schaf melken, fragt ein Mädchen, das wie aus dem Nichts über ihm auftaucht und beinah genauso breit wie hoch ist.
Eskandar nickt.
Für diese Art von Arbeit ist mein Bauch nämlich schon zu groß, flüstert sie.
Die Männer, von denen ich Geld geliehen habe, sind Ungeheuer, sagt die Frau seufzend. Gott ist mein Zeuge, wie hungrige Straßenhunde marschieren sie vor meiner Tür auf und ab, bis ich nachgebe und sie hereinlasse. Schließlich will ich nicht, dass die Nachbarn noch mehr Grund haben, hinter meinem Rücken zu reden. Ich selbst bin alt und verblüht, mein Körper hat bessere Tage erlebt, sagt Frau-Rohan. Aber seit mein Kind mit diesem Bauch herumläuft, will auch sie keiner mehr.
Khanum, ich bin nur der Bote, unterbricht der Übersetzer die Frau und erhebt sich. Er wendet sich Eskandar zu, sagt, sei ein artiger Junge, und verlässt das Zimmer.
Von seinem Platz am Fenster beobachtet Eskandar, wie der Moteardjem im Hof seine alten Schuhe anzieht, durch die Holztür geht und verschwindet.
Eskandar bekommt einen Schlafplatz neben der Fensterbank und der Wand mit der leeren Nische, und sein Wunsch geht in Erfüllung, und er darf seine Sachen in die Nische räumen.
Nenn mich Khanum-Rohan, und meine Tochter heißt Tajelmoluk, sagt Frau-Rohan, dreht die Öllampe herunter, sagt, möge Gott über unseren Schlaf wachen, und fängt an zu schnarchen.
Am nächsten Morgen melkt Eskandar das Schaf, sammelt die Eier der beiden Hühner ein und säubert den kleinen Stall. Er trinkt seinen Tee, isst das trockene Fladenbrot vom Vortag, anschließend bringt Tajelmoluk ihn zum Mullah. Dort soll er den heiligen Koran lernen, was angeblich mehr Nutzen für sein gesamtes restliches Leben haben soll, als im Lager die Schuhe der Farangi zu putzen, ihnen am Abend den Tee zu servieren und sie zu unterhalten.
Tajelmoluk wendet Eskandar ihr verschleiertes Gesicht zu und sagt, pass auf und merk dir den Weg, denn zurück musst du allein finden.
Ein paar Gassen weiter bleibt sie vor einer grün gestrichenen Tür stehen. Hier ist es. Und bevor sie geht, sagt sie, ich mag deinen Namen, er ist hübsch.
Eskandar und die Wahrheit über Frauen und Männer
Wie der Akhund, der ins Dorf gekommen ist, hat auch dieser Mullah einen dichten schwarzen Bart und langes, gewelltes Haar, das glänzt wie die Federn der Krähen, die sich im Lager versammeln, die Hunde der Ausländer ärgern und ihnen die Knochen und das Fleisch stehlen. Auch sonst hat der Mullah viel Ähnlichkeit mit den schwarzen Diebesvögeln. Mit seinem langen schwarzen Umhang macht er so viel Wind, als würde er jeden Moment seine Arme ausbreiten und auf- und davonfliegen.
Außer Eskandar kommen sieben oder acht andere Jungen in sein Haus, hocken auf ihren Bastmatten am Boden um den Akhund herum und versuchen, nicht einzuschlafen.
Eskandar erfährt, dass der Akhund, wenn er nicht die Jungen unterrichtet, wie jeder andere Felder bestellt. Wobei seine Felder keinem Arbab gehören, sondern ihm selber. Er hat sie als Lohn für seine Dienste als Vorbeter, Lehrer, Schlichter, Richter, Hakim und Ehestifter erhalten.
Anders als die anderen Jungen hört Eskandar dem Mullah gerne zu, und zu seiner eigenen Überraschung lernt er sogar viel Brauchbares. Zum Beispiel, dass Tage sich nicht wie eine Kette hintereinander aufreihen, praktischerweise hat Gott nur sieben davon geschaffen, und die wiederholen sich, und zwar bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Von dem allerdings niemand, selbst der Akhund nicht weiß, wann er kommen wird.
Damit, dass Eskandar sich alle sieben Namen auf Anhieb merken kann, beeindruckt er den Mullah und macht sich die anderen Jungen zu Feinden.
Der Mullah sagt, Eskandar sieht aus, als wäre er vor weniger als zehn und mehr als sieben Jahren in diese Welt geboren. Du bist acht, allenfalls neun Jahre alt, sagt er.
Seit Eskandar weiß, was eine Woche, ein Monat und ein Jahr ist, sagt er nicht mehr damals und bald, sondern vor vier Tagen, in zwei Wochen.
Wenn du in ein oder zwei Wochen ins Lager zurückgehst, sagt Frau-Rohan, bitte deinen Mesterr, er soll dir Geld mitgeben.
Zwei Wochen lang bringt Eskandar jeden Tag aus der Gasse einen neuen Kieselstein mit und legt ihn in seine Ecke auf die Fensterbank. Weil Mesterr-Richard ihn aber noch immer nicht ins Lager abholen lässt, verschiebt und zählt er die Steine so viele Wochen vorwärts und rückwärts durch, bis Tajelmoluk ihm eine runterhaut, ihn am Ohr zieht und zwingt, die Steine wieder in die Gasse
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