Eskandar: Roman (German Edition)
keine andere Geschichte eingefallen, die du hättest erzählen können?
Lassen Sie nur, beruhigt ihn der iranische Chefingenieur. Es kann nicht schaden, wenn unsere ausländischen Freunde einen kleinen Einblick in die Geschehnisse unseres Landes bekommen. Was der Junge anspricht, ist die berühmte Tabakrevolte, erklärt der Chefingenieur. Der König hat die Konzession für Tabak an die Ausländer verkauft. Das konnten die Leute sich natürlich nicht gefallen lassen. Und sie haben beschlossen, jeglichen Konsum von Tabak zu boykottieren, erzählt der Chefingenieur. Ich erinnere mich gut daran. Ich muss so alt gewesen sein wie Eskandar, da hat mein Vater mich in den Basar mitgenommen, wo er einen Tabakladen besaß. Er wollte, dass ich sehe, wie er und die anderen Tabakhändler in aller Öffentlichkeit ihre Wasserpfeifen zerschlagen und ihre Läden schließen. Im gesamten Land hat niemand mehr mit Tabak gehandelt, und die Menschen haben aufgehört zu rauchen, bis der König tatsächlich gezwungen war, die an die Ausländer verkaufte Konzession zurückzunehmen.
Obwohl der Gesichtsausdruck der Farangi keinen Zweifel darüber lässt, dass sie darauf verzichten könnten, derartige Geschichten aus ihrem Gastland zu hören, erzählt der iranische Chefingenieur weiter. Es ist wichtig, zu verstehen, sagt er, dass dieser Triumph der Anfang gewesen ist für den Kampf, den wir Iraner heute führen, der Kampf für eine Verfassung und ein Parlament.
So you think you are able to build a democracy in your country?, fragt der Kanadier betont freundlich und sieht in die Runde.
Yes, antwortet Chefingenieur Agha-Schahi.
And next thing they will want to get us and the Russians out of their country, sagt ein englischer Saheb.
Wer kann es ihnen verdenken?, erwidert der Kanadier grinsend.
Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?, fragt der Brite, und bevor Richard eine Antwort geben kann, macht der Engelissi eine abfällige Bewegung mit der Hand und sagt, solange wie die Mehrheit der fünfzehn Millionen Einwohner in diesem Land so wie dieser Boy nicht einmal seinen Namen schreiben kann, haben wir nichts zu befürchten.
Eskandar steht mit eingezogenem Kopf da und versteht nur so viel, dass die Stimmung gekippt ist, und zwar seinetwegen.
Ich glaube, Sie haben recht, sagt Richard zu seinen britischen Kollegen.
Richard macht einen letzten kräftigen Zug an seiner Zigarre und wirft den Stummel ins Feuer. Er geht zu Eskandar, kniet sich vor ihn, legt ihm die Hand auf die schmale Schulter und fragt: You want to be engeneer like me?
Eskandar kann seine Angst nicht mehr verbergen und sagt, was er immer sagt, wenn er die Farangi nicht versteht, yes, gudgud Saheb.
You understand? You school Engeneer Saheb?
Yes, yes, gudgud Saheb, wiederholt Eskandar.
Alle sind still, nur der Kanadier fängt an zu lachen, kann gar nicht mehr aufhören damit und steckt ein wenig auch Eskandar damit an, der sich langsam wieder beruhigt.
Ich sehe bereits die Schlagzeile in der Times, ruft Richard. Seine Majestät, der König von England, ist stolz auf seine Untertanen im fer nen Persien. Britisches Expeditionsteam, das zu seiner Unterstützung polnische und kanadische Experten und zu ihrem Schutz Soldaten der Kronkolonie Indien in dieses entlegene Land mitgenommen hat, findet seit acht Jahren kein Petroleum, verhilft verarmten Leibeigenen aber zu Bildung.
Goodbye and good luck
Nach tagelangem Marsch durch die Wüste, über Berge und Täler, von Banditen ausgeraubt und um ihr kleines Vermögen gebracht, aber immerhin ohne von wilden Tieren angegriffen worden zu sein, kommen Eskandar und der Übersetzer in der Stadt an. Eskandar hat weder begriffen, warum er das Lager verlassen musste, noch weiß er, wohin seine Reise geht, wie lange er fortbleiben wird und ob er jemals wieder zu seinen ausländischen Beschützern zurückdarf.
Schon alleine der Anblick der Stadt macht ihm so viel Angst, dass er sich unbewusst an den Arm des Moteardjem klammert und sich an ihn drückt. So viele Menschen auf einmal hat Eskandar noch nie gesehen. Es riecht nach Tieren, Kot, schmutzigem Wasser, gegrilltem Fleisch, nach frischem und verfaultem Gemüse, Gewürzen, Feuer, Qualm, feuchtem Lehm und Staub. Die Rufe der Händler, die ihre Waren feilbieten, vermischen sich mit dem Klappern der Hufe auf den steinigen Straßen, dem Klimpern und Rasseln der Gehänge an den Droschken, dem Wiehern der Pferde, den Schreien der Esel, den Rufen der Kinder. Die Tischler klopfen und hämmern,
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