Eskandar: Roman (German Edition)
steckt.
Er hatte geglaubt, jegliche Art von Schmerz, den diese Welt für einen Menschen bereithält, schon erlitten zu haben, erklärt Roxana-Khanum einer jungen Frau, die sie wie die meisten anderen Trauergäste nicht kennt. Aber an dem Nachmittag, als meine Tochter Nimtadj und ich ihn aufgesucht haben, um ihm die Nachricht von der Hinrichtung seiner Tochter zu überbringen, ist sein Schmerz so groß gewesen, dass er beinahe selbst daran gestorben wäre.
Meine geliebte Schwägerin Sahra gehört zu den Tausenden und Abertausenden, die dem Regime von Mohammad-Resa-Pahlewi zum Opfer gefallen sind. Sie ist im berüchtigten Evin-Gefängnis zuerst gefoltert, dann vergewaltigt und anschließend ermordet worden, sagt Nimtadj mit bebender Stimme bei ihrer Rede auf der Trauerfeier von Sahra.
Meine Schwiegertochter war eine zarte Blüte, die nicht lang genug auf dieser Welt gewesen ist, um sich voll entfalten zu können, sagt Roxana-Khanum. Sie lässt eine kleine Tochter zurück, die nun ohne die Liebe ihrer Mutter aufwachsen muss.
Unsere Herzen sind schwer, als Ausdruck unseres Schmerzes tragen wir Schwarz, sagt der Mullah. Im ganzen Land trauern wie hier ungezählte Eltern um ihre Kinder. In der ganzen Stadt tragen Menschen ihre Bettlaken auf die Straße, um daraus Verbände für die Verletzten zu machen.
Manche der Trauernden weinen, andere recken die Fäuste in die Luft und skandieren Anti-Schah-Parolen.
Eskandar-Agha sitzt in der Ecke, starrt vor sich hin, weint und schüttelt in einem fort den Kopf, als würde er immerzu sagen: nein, Nein, nein. Er ist bald achtzig Jahre alt. In diesem Alter erträgt man einen Schlag wie diesen nicht mehr unbeschadet, sagt Roxana-Khanum. Dabei ist sie mit ihren neunundsechzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste und hat alle Hände voll zu tun, sich um ihre Enkelin Aftab zu kümmern und um ihren Sohn Alexander, der selbst aussieht, als wäre er nur noch halb unter den Lebenden.
Es ist ein ungewöhnlich harter Winter, und Öl und Benzin sind knapp. Selbst im Petroleumland Iran sind die Schlangen vor den Naft-Läden und Tankstellen endlos. Roxana-Khanum kann nur zwei Zimmer ihres großen Hauses heizen.
Es ist ohnehin an der Zeit, dass wir näher zusammenrücken und endlich wie eine richtige Familie leben, sagt sie und lässt Eskandar-Agha samt seinen Habseligkeiten in das Haupthaus holen.
Dort sitzt er den ganzen Tag auf dem Boden unter dem warmen Korssi und starrt auf den Fernseher, auch dann, wenn er ausgeschaltet ist.
1978, Kriegsrecht und Totenstille
Angetrieben durch die Hinrichtung von Sahra, die ihr mehr gewesen ist als eine Schwägerin, eine Freundin, eine Mitkämpferin, eine Kol legin, eine Vertraute, mit der sie zusammen aufgewachsen ist, hat Nimtadj mehr Mut und mehr Kraft denn je. Mehr Kraft und mehr Wut. Gegen den Willen ihrer Mutter, Eskandar-Agha, Agha-Farrokhs ist sie von früh bis spät auf den Straßen unterwegs und filmt und spricht mit wütenden Menschen, Gegnern des Schah, Studenten und Arbeitern, Müttern, die über den Tod ihrer Kinder weinen, Vätern und Brüdern, die den Tod ihrer Lieben beklagen.
Warum tust du das?, fragt ihre Nichte Aftab.
Damit wir nichts von dem vergessen, was gerade geschieht, antwortet Nimtadj und streicht ihrer Nichte über den Kopf.
Auf dem Friedhof im Süden der Stadt filmt Nimtadj eine Frau, die am Grab ihres hingerichteten Sohnes hockt. Sie starrt lange wortlos in die schwarze Linse, so als würde sie ihr eigenes Spiegelbild darin ansehen, dann sagt sie: Der Tod und das Sterben sind Teil unseres Lebens geworden. Wir Iraner haben uns daran gewöhnt. Wir brauchen den Tod. Nur noch wenn der Tod uns nah ist, fühlen wir uns lebendig und als ein Volk.
Ohne ihrer Mutter oder Eskandar-Agha etwas davon zu sagen, fliegt Nimtadj im August in den Süden nach Abadan, weil dort ein Kino ausgebrannt ist.
Was ist geschehen?, fragt sie eine Frau, die vor dem ausgebrannten Gebäude auf der Straße sitzt und vor sich hin starrt.
Mein Kind ist bei lebendigem Leib darin verbrannt, sagt die Frau, die aussieht, als würde sie weinen, aber sie hat keine Tränen. Ich sehe immerzu Flammen, die an dem Körper meiner Tochter züngeln, sagt sie. Ich sehe, wie mein Kind sich windet und um sich schlägt. Ich höre, wie meine Tochter schreit und brüllt und nach mir ruft, sagt die Frau und fängt selbst an zu schreien und zerkratzt sich das Gesicht, bis es blutet, damit sie den Schmerz in ihrem Herzen weniger spürt.
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