Eskandar: Roman (German Edition)
ins Publikum. Vielleicht sind die Vertreter der von Ihnen angesprochenen Organisationen anwesend und so freundlich, diese Frage selbst zu beantworten, sagt sie und erntet Lachen und Applaus.
Meine Tochter, murmelt Eskandar-Agha stolz und richtet sich auf. Sie ist so groß geworden. Eine richtige Frau.
Seit er die Hoffnung hegen durfte, sie nach mehr als sieben Jahren endlich wiederzusehen, hat Eskandar-Agha sich Worte zurechtgelegt und sie wieder verworfen, mit denen er seine Tochter begrüßen, sich bei ihr entschuldigen, ihr verzeihen, vor ihr auf die Knie fallen, sie einfach in die Arme nehmen würde.
Als sie sich aber im Anschluss an die Veranstaltung gegenüberstehen, scheint nichts von alledem richtig zu sein. Als wenn eine unsichtbare Wand sie voneinander trennen würde, stehen auf der einen Seite Eskandar-Agha und Roxana-Khanum und auf der anderen Sahra und Alexander. Sie sehen sich an, und keiner rührt sich. Dann kommt ein kleines Mädchen in roten Lackschuhen zu Sahra, sieht sie von unten an, folgt ihrem Blick, entdeckt Eskandar-Agha und fragt, Mama, wer ist der Mann?
Das ist dein verehrter Großvater, antwortet Sahra, und Tränen steigen in ihre Augen.
Das Mädchen starrt Eskandar-Agha noch eine Weile an, stellt sich dann vor ihn und sagt, also bist du der Geschichtenerzähler.
Ohne dass er es will, sinkt Eskandar-Agha auf die Knie, nimmt seine Enkeltochter in die Arme, weint und lächelt, schluchzt und lacht und sagt, ja, mein Kind, der bin ich, und wer bist du?
Das Mädchen lächelt, schlingt die Arme um den Hals von Eskandar-Agha und sagt, ich heiße Aftab.
Roxana-Khanum streicht der kleinen Aftab über den Kopf, geht geradewegs auf Alexander zu, umarmt ihn und sagt, verzeih mir, mein Sohn. Verzeih mir, verzeih mir, dann versagen ihre Beine schließlich doch, und sie sackt in sich zusammen.
Als sie im Fond der Limousine wieder zu sich kommt und die Augen aufschlägt, fällt ihr Blick als Erstes auf Eskandar-Agha, der ihr gegen übersitzt. Verehrter Eskandar-Agha, murmelt sie, durch unsere Kinder und unser gemeinsames Enkelkind sind wir nun endlich auch durch unser Blut miteinander verbunden.
An Schlaf ist in dieser Nacht natürlich nicht zu denken. Wie eine richtige Familie sitzen sie alle beisammen. Keine Vorwürfe, keine Beschuldigungen, nur Fragen und Antworten.
Wir haben kein Haus, erklärt Sahra strahlend, nicht einmal ein Zimmer haben wir, und alle unsere Habseligkeiten befinden sich in diesen vier oder fünf Taschen und Bündeln. Sie sieht ihren Alexander an und sagt, aber wir sind glücklich. Unser Leben könnte sinnvoller und reicher nicht sein. Wir haben uns und unsere Liebe, unsere geliebte Tochter Aftab und unsere Überzeugung, und wir nehmen uns die Freiheit, sie zu äußern.
Wir haben mehr als genug Platz, sagt Roxana-Khanum vorsichtig und hofft, dass Alexander und Sahra das Angebot, bei ihnen zu wohnen, annehmen werden.
Und wir haben so viel Freiheit, wie wir wollen, beeilt Eskandar-Agha sich zu sagen und bringt die anderen damit zum Lachen.
Erzähl mir die Geschichte von der Freiheit, sagt die kleine Aftab und kriecht zu ihrem Großvater unters Korssi. Und bevor Eskandar-Agha sich eine Geschichte ausdenken kann, erklärt sie, ich weiß, was Freiheit ist. Das ist, wenn man auf Demonstrationen geht.
Wenn das so ist, antwortet Eskandar-Agha lächelnd, gehöre ich zu den freiesten Menschen des Landes und wahrscheinlich sogar der Welt. Denn ich habe schon an so vielen Demonstrationen teilgenommen, dass sie nicht nur für meine Freiheit, sondern auch für die meiner Kinder und Kindeskinder, also auch für dich, reichen.
Morgen werde ich auf eine Demonstration gehen, erklärt Aftab. Wenn du willst, kannst du mitkommen, sagt sie zu Eskandar-Agha.
Für einen alten Mann wie mich ist es jetzt zu kalt draußen, erwidert er, außerdem würde ich mich freuen, wenn du bei mir bleibst, statt gleich wieder auf irgendwelche Demonstrationen zu verschwinden. Du bist doch gerade erst angekommen, und hier ist es gemütlich und warm. Bleib bei mir, und wir schalten diesen wunderbaren Kasten, den Fernseher, ein und sehen uns alle Demonstrationen schön bequem von hier aus an.
Die kleine Aftab überlegt mit ernster Miene, sieht ihre Mutter an und fragt, darf ich das?
Du darfst, sagt Sahra, worauf Aftab aufspringt und das Gerät sofort einschaltet und die Erwachsenen sich wieder über die Kleine freuen.
In den Wochen, die kommen, wird es zur liebgewonnenen Gewohnheit, Eskandar-Agha und
Weitere Kostenlose Bücher