Eskandar: Roman (German Edition)
letztes Blut geben.
Schon gut, schon gut, flüstert Frau-Rohan. Sobald die Sonne aufgegangen ist, gehst du zum Haus vom Akhund. Ich will wissen, was los ist.
Vor dem Haus des Mullah sind so viele Pferde angebunden, dass Eskandar kaum zur Tür kommt. Im Hof liegen zwei Tote, sie sind mit ihren Schals bedeckt. Frauen haben ihre weißen Gesichtstücher zurückgeschlagen und versorgen Verletzte. Statt der üblichen Schlappen von Schuljungen stehen schwere Reiterstiefel mit Absätzen vor der Tür zum Zimmer des Mullah. Drinnen ist die Luft schwer vom Geruch der abgekämpften Männer. Dicht an dicht hocken sie am Boden, wirken müde und niedergeschlagen. Manche haben den Turban abgenommen, manche halten ihre Gewehre, Dolche, Säbel fest in Händen, als müssten sie gleich wieder in die Schlacht zurück. Eskandars Herz schlägt schneller, denn die tapferen Krieger sehen genauso aus wie die Männer aus den Geschichten, die der Mullah über Prophetmohammad und seine Weggefährten erzählt. Und genauso wie Prophetmohammad sind auch diese Männer bereit, für ihren Glauben und ihre Überzeugung zu töten und selbst getötet zu werden.
Eskandar?, fragt einer der Männer. Mein Eskandar? Der Junge aus dem Dorf ohne Namen?
Eskandar erkennt den Mann sofort. Es ist Hodjat der Reiter. Du lebst, sagt er, springt auf, umarmt und küsst Eskandar. Das ist das schönste Geschenk, das Allah mir hätte machen können.
An der Art, wie der Mullah und die anderen Kämpfer Hodjat ansehen, erkennt Eskandar, sein Freund muss ein wichtiger und respektierter Mann sein. Und als Hodjat ihm Platz macht, damit er neben ihm und im Kreis der Männer sitzen kann, ist Eskandar so stolz wie noch nie.
Während alle Augen auf Hodjat gerichtet sind, berichtet er, die Abgeordneten haben dem König vertraut und ihm geglaubt, dass er mit ihnen über die Verfassung verhandeln will. Aber als sie allesamt in seinem Garten versammelt waren, hat er sie mit Hilfe von Soldaten der Farangi-Besatzer verhaften und in Ketten legen lassen. Als wenn diese Erniedrigung nicht schon genug gewesen wäre, hat er dann auch noch mit einem dieser neuartigen Apparate aus Farang ein Bild von ihnen gemacht und es im Basar und in der Stadt aushängen und herumzeigen lassen, damit das Volk sieht, dass er und niemand anderer die Macht besitzt.
Der Mann neben Hodjat, in dessen Schärpe ein prächtig funkelnder Dolch steckt, wie Eskandar noch nie einen gesehen hat, richtet sich auf. Lasst uns aufbrechen, ruft er, sobald unsere Verletzten versorgt sind und unser Proviant aufgestockt ist. Lasst uns in die Hauptstadt reiten und den Verräter, den Hundesohn von König, zur Rechenschaft ziehen.
Ich bin bereit, ruft Hodjat. Möge Allah geben, dass ich wie meine tapferen Brüder mein letztes Blut für die Heimat opfere und als Märtyrer vor meinen Gott trete.
Die anderen Männer stimmen dem Reiter zu, manche strecken die Faust in die Luft. Wohl gesprochen Bruder, sagen sie und schicken ein Stoßgebet gen Himmel.
Am liebsten würde Eskandar aufspringen, ebenfalls die Faust in die Luft strecken und irgendetwas rufen.
Drei Wochen lang haben wir Reiter und Nationalisten uns im Parlament verschanzt. Es ist im Morgengrauen gewesen, erzählt Hodjat mit gesenkter Stimme. Als wir zusammen mit den tausend und mehr Soldaten und Offizieren uns todesmutig den russischen Kosakenbrigaden gestellt haben. Sie haben das Gebäude umzingelt, erzählt Hodjat, und sind mit ihren Kanonen in Stellung gegangen. In der ganzen Hauptstadt haben Männer ihre Läden und Buden geschlossen und sind in großen Gruppen zum Parlament gezogen, um uns und ihre Volksvertreter zu unterstützen. Hinterhältig haben die Russen jedem gestattet, das Gelände zu betreten.
Erzähl uns von dem Colonell, sagt der Mann mit dem Dolch.
Ein russischer Offizier ist auf einem weißen Pferd angeritten, hat Befehle erteilt und ist wieder verschwunden. Und dann, Hodjat schlägt die Hände vors Gesicht, und Eskandar bekommt eine Gänsehaut, dann haben sie das Feuer auf uns eröffnet. Aus sechs Kanonen haben sie geschossen.
Eskandar starrt den Reiter an und wagt kaum Luft zu holen.
Junge, geh hinaus, und bring frischen Tee, befiehlt der Mullah. Aber Eskandar bleibt wie angewurzelt hocken und kann sich nicht rühren.
Die Ausländer haben unser Land besetzt, sagt Hodjat. Sie verhaften und töten jeden, der sich für die Verfassung und ein freies Parlament einsetzt. Ohne die Unterstützung der gottlosen Farangi hätte der König weder den Mut
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