Esper unter uns
Finger umklammerten den Griff einer Krokodilledertasche auf ihrem Schoß. Er nahm das teure, blaßblaue Tweedkostüm auf, das dichtgewellt blonde Haar und den rosigen Teint. Sie starrte geradeaus und ignorierte sein freundliches »Guten Morgen«.
Flowers Schreibtisch mit mehreren Fönen, Wechselsprechanlagen, Stenoaufzeichnern und Schreibmaschine befand sich am Ende des Raumes zwischen zwei Türen, die zu den Sprechzimmern führten. Sie trug ein hellbraunes Kleid, dessen Farbe und Schnitt genau wie die Einrichtung dem Raum eine entspannende, nichtklinische Atmosphäre verleihen sollte. Sie schaute hoch, als Victor näherkam.
»Guten Morgen, Dr. Coleman.«
»Miß O’Connor – wie geht es Ihnen heute?«
Der verbale Teil ihrer Unterhaltung war für die Anwesenden gedacht. Die wirkliche fand in Gedankenschnelle statt, als ihre Muster der obersten Ebene sich vermischten.
Hallo Rotschopf … Lieb’ dich, braunes Mädchen. Gib mir fünf Minuten, um die Krankengeschichte durchzusehen, dann melde ich mich. Sie hat echte Schwierigkeiten, die sie auffressen … Vielleicht solltest du Peter hinzuziehen? … Nein, ich schaffe es schon allein … Wenn du meinst. Du wirst sie schon aufmöbeln …
»Danke, gut. Die Unterlagen liegen auf Ihrem Schreibtisch, Doktor.«
Er nickte und trat in sein Sprechzimmer. Auch hier war die Einrichtung und Atmosphäre mit voller Absicht nichtklinisch. Der Schreibtisch stand unauffällig in einer Ecke beim Fenster. Victor benutzte ihn bei seinen Konsultationen nie. Zu seiner Methode gehörte, solche Barrieren zu vermeiden und bei seinem Patienten Wohlgefühl und Entspannung zu wecken. Aus diesem Grund hatte er auch auf die traditionelle Couch verzichtet. Er und der Patient saßen nebeneinander in verstellbaren Liegesesseln, die weich gepolstert und mit rehbraunem Stoff überzogen waren.
Genau wie in seinem Apartment hatte er auch hier seiner Liebe für technische Spielereien nachgegeben. Er hatte psionisch wechselbare Wandfarben und eine verborgene Hi-Fi Anlage mit einer Auswahl von etwa zweitausend Musikstücken, die er mit einem Gedankenbefehl einschalten konnte. Die Kosten für letzteres hatten sich als Teil seines persönlichen Projekts – die Wirkung von Musik auf die menschliche Psyche zu erforschen – rationalisiert. Es war ihm bereits gelungen, bestimmte gemeinsame Faktoren in Beethovens, Tschaikowsky und Brahms Schöpfungen zu isolieren, die darauf schließen ließen, daß ein großer Teil des Genies dieser berühmten Komponisten daher rührte, daß sie intuitiv die Reaktion ihrer Zuhörer erfaßten. Durch seine eigenen Hobbyexperimente war er inzwischen in der Lage, durch eine mit einem Synthesizer verbundene elektrische Gitarre, einige dieser Wirkungen gezielt herbeizuführen.
Alles, was während der Therapiesitzungen vorging, wurde durch versteckte Kameras audio-visuell festgehalten. Peter Moray, der sich konventionellerer Mittel bediente, hatte sich schon mehrmals über die Unmengen der benötigten teuren Videobänder beschwert, und sich nur dadurch ein wenig besänftigen lassen, daß Victor ihm versprach, die weniger wichtigen Aufnahmen zu löschen und die Bänder wieder zu verwenden.
Der bleichgrüne Hefter enthielt lediglich die knappsten Angaben. NATALIE TARRANT, Witwe, 56. Finanziell durch die Hinterlassenschaft ihres verstorbenen Mannes gut versorgt. Wohnt in einem Komfortapartment in einer guten Gegend. Gehört einem Bridge-Club, einer Blumensteck-Gruppe und der Anglo Ladies Gesellschaft an. Victor runzelte die Stirn.
Ein Sohn, Geoffrey, Ingenieur, verheiratet, zwei Kinder, lebt in Sydney, Australien. Ein weiter Weg von Mama – Sicherheitsabstand? Patientin leidet an akuter Migräne, die bisher jeglicher Behandlung widerstand. Die Gruppen, denen sie angehörte, boten nur Pseudoanschluß, bei ihren Treffen redeten alle, und keiner hörte zu. In diesem übervölkerten Ameisenhaufen von Stadt war Natalie Tarrant allein.
Auf dem Hefter steckte mit einer Büroklammer ein handgeschriebener Zettel des behandelnden Arztes, der die Patientin überwiesen hatte. Er war ein guter Mann, hatte jedoch seine eigenen Probleme.
Lieber Victor,
nimm sie mir um Himmels willen ab. Seit fünf Jahren, als ihr Mann starb, setzt sie mir zu (meine Diagnose: Selbstverteidigung).
Ich weiß nicht, wie zum Teufel, sie an meine Privatnummer gekommen ist, aber in letzter Zeit ruft sie mich um zwei Uhr früh an. Nancy droht bereits damit, ins Gästezimmer umzuziehen. Erweise dich als
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