Esper unter uns
Freund und rette meine Ehe.
Raymond
Victor legte den Hefter in die oberste Schreibtischlade. Sein eidetisches Erinnerungsvermögen machte Notizen unnötig, und er zog es vor, die Atmosphäre zwischen ihm und seinen Patienten so informell wie nur möglich zu halten. Er drückte auf den Schalter der Sprechanlage.
»Mrs. Tarrant, bitte.«
»Jawohl, Dr. Coleman«, antwortete Flowers Stimme.
Die Frau zögerte, als die Tür sich hinter ihr schloß. Victor, der bei den beiden Liegesesseln stand, schaltete sich in ihre Subvoceebene ein. Die ersten Eindrücke waren gerade bei einem neuen Patienten sehr wichtig.
Keine Umkehr mehr – allein mit diesem gutaussehenden rothaarigen Mann – viel zu jung, um etwas zu taugen, ich hätte mich nicht von Dr. Bellman dazu überreden lassen sollen – jünger als Geoffrey – lieber Geoffrey – Junge – diese Schlampe, die er da geheiratet hat – was konnte er nur in einem so gewöhnlichen Weibsstück mit dem Riesenbusen und dem überdimensionalen Hintern sehen? Nein, ich darf nicht verbittert sein – darf nicht an so etwas denken – dieser eingebildete Dr. Allwissend mit seinem vornehmen Sprechzimmer – er kann ja meine Probleme überhaupt nicht verstehen. Weshalb sollte ich sie ihm erzählen?
»Guten Morgen, Mrs. Tarrant. Bitte setzen Sie sich doch.« Victor blieb, wo er war. Statt ihr entgegenzugehen und ihre Hand zu schütteln, deutete er auf den Liegesessel zu seiner Rechten. Eine körperliche Berührung in diesem Augenblick könnte ihre zukünftigen Beziehungen in Gefahr bringen. Wenn man mit so Empfindlichem wie der menschlichen Psyche zu tun hatte, mußte man behutsam vorgehen.
Das sorgfältige Make-up vermochte nicht zu verbergen, wie schmal die Oberlippe war, als Mrs. Tarrant ihm ein höfliches Lächeln schenkte und sich setzte. Ihr Rock spannte sich über den fleischigen Schenkeln. Sie überkreuzte die Fußgelenke, um nicht zuviel Bein zu zeigen, und fuhr sich kurz über die goldgelben Wellen.
Nun, junger Mann, wie glauben Sie, mir helfen zu können? Sie sehen ja nicht einmal wie ein richtiger Arzt aus! Ein Doktor sollte zumindest graue Schläfen haben, nicht so jung sein und vor Vitalität strotzen – oder sollte es Virilität heißen? Mein Gott, einige dieser modernen Psychologen sollen Sex als Therapie benutzen!
»So ist es gut. Ich habe natürlich Dr. Bellmans Bericht gelesen, aber vielleicht möchten Sie mir lieber selbst über Ihre Kopfschmerzen erzählen.«
»Ich sehe wirklich keinen Sinn darin, das zum x-tenmal durchzukauen.«
»Auch wenn ich Ihnen versichere, daß es notwendig ist und eine große Hilfe für uns beide sein wird?«
»Inwiefern? Sie wissen doch genausogut wie ich, daß Sie mir schließlich ebenfalls nur Pillen verschreiben werden, wenn auch vielleicht von anderer Farbe als die von Dr. Bellman.«
»Mrs. Tarrant, keine Pillen, das verspreche ich Ihnen. Nun, tun Sie mir den Gefallen?«
Welch charmantes Lächeln – so jungenhaft und – nein, Natalie! Laß dich nicht von diesem Scharlatan becircen. Ihre Mundwinkel spannten sich. Sie sind ja alle nur hinter deinem Geld her – Privatpatient, fünfundzwanzig Pfund für jede Konsultation – ich hätte nie …
»Wissen Sie, daß Dr. Bellman glaubt, ich bilde mir alles nur ein?«
»Ich bin sicher, daß er das nie gedacht hat. Selbst wenn sie nicht isoliert und unter einem Mikroskop studiert werden können, sind diese Probleme so wirklich wie jede organische Krankheit. Gedanken, Mrs. Tarrant, sind sehr wirklich!«
Und Wünsche sind Träume – und auf psychische Krankheiten wird immer noch herabgesehen. Besser, wenn ich mich etwas mit moralischerem Hintergrund zuwende.
»Sagen Sie, Dr. Coleman – dieses Mädchen am Empfang – weshalb beschäftigen Sie diese – Leute?«
»Diese Leute, Mrs. Tarrant?«
»Immigranten!« Die spröde Stimme klang ungeduldig. »Bei fast einer Million Arbeitslosen hätten Sie doch gewiß ein nettes Anglomädchen finden können.«
Victor unterdrückte einen Seufzer. Donleavys opportunistisches Gift breitete sich überall aus. Das Immigranten-»Problem« bot einen Vorwand für jegliche Frustration und eine Entschuldigung für jegliche Bosheit.
»Miß O’Connor ist in Brixton geboren und aufgewachsen.«
»Das tut nichts zur Sache. Sie gehört nicht hierher – keiner von ihnen. Der Premier sagte gestern abend im Fernsehen selbst …«
»Mrs. Tarrant – Flower O’Connor hat einen Doktorgrad in Psychiatrie und Soziologie. Unter anderen politischen
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