Esper unter uns
höchsteigenen Lebensweise.
Vermutlich würde es Schwierigkeiten geben, wenn Arthur Thomassen erfuhr, daß sein toter Sohn schließlich doch nicht als Heiliger hingestellt wurde, aber der Commissioner würde ihm schon aus Prinzip den Rücken decken, vor allem, wenn er neue Beweise erbrachte – und Zeugen, beispielsweise den Anrufer, der in jener Nacht die Polizei alarmiert hatte …
8.
Victor schaute aus dem Fenster hinaus in den grauen Tag und hing seinen Erinnerungen an Flower nach, als die Türglocke klingelte.
»Was ist geschehen, Doc?« Cass Delahoy grinste breit, als er Victors Hand schüttelte. »So wie ich es verstehe, schulden wir Rastas Ihnen ewigen Dank.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Victor, als sie nebeneinander ins Wohnzimmer gingen.
»Hören Sie, Doc, es gibt bestimmt keinen unter den Anglos mit Beziehungen, der auch nur einen Finger für uns gerührt hätte. Außerdem erzählte mir Sam O’Connor, daß er mit Ihnen gesprochen hat.«
»Inspektor Macken hat seine Meinung geändert, und ich bekomme den Dank dafür, ist es so?« Victor fühlte sich durch Cass’ Besuch gleich viel wohler.
»Mann! Sie wissen verdammt gut, daß Macken nie ohne Druck seine Meinung ändern würde. Sie müssen ihm ganz schön zugesetzt haben, daß er uns laufenließ.«
»Wie wäre es mit einem Drink?«
»Aha, Sie wollen das Thema wechseln. Der bescheidene Anglo! Flower schrieb mir in ihren Briefen …« Cass unterbrach sich. »Ich und mein loses Mundwerk! Das war etwas, das ich nicht aufs Tapet bringen wollte.«
»Ich muß mich allmählich daran gewöhnen, daß sie nicht mehr ist.«
»Aber es fällt Ihnen nicht leicht?«
»Ich sehe immer noch diese Fotografie, diese grauenvolle Aufnahme, die mir Macken im Krankenhaus vor die Augen hielt …«
Cass’ Gesicht war jetzt ernst. »Sie sind der Doktor, aber ich habe das Gefühl, daß Sie nicht so besonders gut beisammen sind«, sagte er ruhig. »Sie geben sich wohl immer noch die Schuld für das, was passiert ist! Das dürfen Sie nicht! Und schon gar nicht sollen Sie allein hier herumhocken und darüber brüten. Was Sie brauchen, sind Menschen, Lärm und Schnaps. Und ich weiß genau, wo das zu finden ist. Kommen Sie, Doc – Sie sind zu einer Rasta-Entlassungsparty eingeladen.«
Das Hinterzimmer des Jamaika Inns war weitbekannt als Hochburg des Reggaes in London, wo die obersten Rastas zusammenkamen, um den frohen, herausfordernden Sturm zusammenzubrauen, der ihre Musik war.
Anfangs blieb Cass dicht an Victors Seite, machte ihn mit den Anwesenden bekannt, besorgte ihm zu trinken und kehrte den aufmerksamen Gastgeber hervor, doch nach einer halben Stunde konnte er dem Drängen seiner Mitmusiker und dem eindringlichen Rhythmus nicht mehr widerstehen, und er nahm seinen Platz auf der engen Plattform neben den anderen ein.
Victor blieb an einem Tisch mit Batchy Royd sitzen und lauschte verzaubert, als eine neue Welt des Sounds um ihn explodierte. Schon an Cass’ Tanz bei den O’Connors war etwas Besonderes gewesen, aber an diesem Nachmittag, mit dem verbeulten Tenorsaxophon schreiend und stöhnend unter seinen flinken Fingern, sprach eine wilde Genialität aus seiner Improvisation, die alles andere überlagerte. Cass war der König, der das verwickelte Netz von Harmonie und Rhythmus der anderen Musiker hochspielte, und sie nahmen es voll Begeisterung auf und trieben ihn zu noch himmelstürmenderen Höhen an.
Für Victor bestand kein Zweifel, daß Cass unbewußt seine Psifähigkeit nutzte, von der er selbst überhaupt nichts wußte, um dem Geist der anderen die Tonsätze zu entnehmen, ehe sie sie noch spielten, und sie miteinander zu einem ungemein komplexen Gewebe unnachahmbarer Improvisation zu verknüpfen. Die Beherrschung seines Instruments war so ungeheuerlich, daß es jeder seiner Stimmungen gehorchte. Für Victor mit seiner gewollt entwickelten Sensitivität musikalischen Ausdrucks gegenüber kam es einer Psiwahrnehmung näher als alles, seit seiner Verletzung. Er war schockiert, als Cass sein musikalisches Talent so gleichgültig abtat, als sie später wieder beisammen saßen und tranken.
»Es ist nur Lärm, Doc, ein Pfeifen im Dunkeln«, sagte er. »Sicher, es macht Spaß, da droben herumzuwimmern, aber das ist nur Fassade, eine Art Kriegstanz. Wir müssen erst noch beweisen, daß hinter diesem Blut- und Feuergeheul, das wir so tapfer hinausschreien, wirklich etwas steckt – und zwar bald. Denn wenn nicht, ist es zu spät. Dieser
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