Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
Würmer einzuverleiben. Das Arme, womöglich war es an Überfütterung gestorben, da Tita es immerzu nur vollstopfte. Titas Blick war abwesend und traf Chencha, als sähe sie diese zum ersten Mal in ihrem Leben.
Schließlich mußte Chencha unverrichteter Dinge wieder hinabsteigen mit der Nachricht, Tita habe den Verstand verloren und wolle den Taubenschlag nicht verlassen.
»Nun gut, wenn sie durchgedreht ist, wird sie eben in der Irrenanstalt landen. In meinem Haus ist kein Platz für Verrückte!«
Und tatsächlich schickte sie sogleich Felipe zu Doktor Brown, damit er Tita fortbrächte. Als der Arzt kam, hörte er sich zunächst Mama Elenas Version der Geschichte an und machte sich dann daran, zum Taubenschlag hinaufzusteigen.
Dort fand er Tita völlig unbekleidet, mit gebrochener Nase und dem Körper von oben bis unten voller Taubendreck vor. Lauter Federn klebten ihr auf der Haut und in den Haaren. Sobald sie Doktor Brown erblickte, flüchtete Tita in die hinterste Ecke und kauerte sich dort wie ein Embryo zusammen.
Niemand erfuhr, was sie Doktor Brown in den langen Stunden, die er bei ihr verbrachte, alles erzählte, doch gegen Nachmittag kam er endlich mit der vollständig angekleideten Tita wieder herunter, bestieg seine Kutsche und nahm Tita mit.
Chencha rannte weinend hinter ihnen her und schaffte es gerade noch, Tita die riesige Decke, die sie in den unzähligen schlaflosen Nächten gehäkelt hatte, um die Schultern zu legen. Diese war so groß und wog so schwer, daß sie bei weitem nicht in die Kutsche hineinpaßte. Doch da Tita sich mit aller Kraft daran klammerte, blieb nichts anderes übrig, als die Decke hinterherschleifen zu lassen wie eine überdimensionale, kunterbunte Brautschleppe, die nicht weniger als einen Kilometer bedeckte. Da Tita ohne Rücksicht auf die Farbe jegliches Garn, das ihr unter die Finger gekommen war, für ihre Decke verwandt hatte, wies diese nun ein Sammelsurium von Strukturen, Mustern und Farben auf, die beim Vorbeiziehen wie von Zauberhand durch die hoch aufwirbelnde Staubwolke hindurchblitzten, um stets sogleich wieder zu verschwinden.
FORTSETZUNG FOLGT...
Nächstes Rezept:
Masse Zur Herstellung Von Streichhölzern
KAPITEL SECHS
JUNI:
Masse zur Herstellung von Streichhölzernzutaten:
ZUTATEN:
1 Unze Salpeterpulver
1/2 Unze Bleimennige
1/2 Unze Gummiarabicum (pulverisiert)
1 Drachme Phosphor
Safran
Pappe
ZUBEREITUNG:
Das Gummiarabicum muß in heißem Wasser gelöst werden, bis eine nicht zu feste zähflüssige Masse entsteht. Wenn diese soweit ist, fügt man den Phosphor und das Salpeterpulver hinzu und wartet, bis es sich auflöst. Zum Schluß wird noch eine ausreichende Menge an Mennige untergemischt, um die Masse einzufärben.
Tita sah schweigend zu, wie Doktor Brown die nötigen Handgriffe verrichtete. Sie saß am Fenster eines kleinen Labors, das der Doktor im hinteren Teil des Hofes in einem Anbau eingerichtet hatte. Der Lichtstrahl, der durch das Fenster einfiel, schien ihr direkt auf den Rücken und gab ihr ein leichtes Gefühl von Wärme, doch es war so schwach, daß sie es kaum spürte. Die Kälte hatte sich derart hartnäckig festgesetzt, daß sich keine Wärme entwickeln konnte, obwohl Tita in ihre überdimensionale Wolldecke eingewickelt war. An einem Ende häkelte sie des Nachts mit einem Garn weiter, das John ihr besorgt hatte.
Im ganzen Haus war das hier der Ort, an dem beide sich am wohlsten fühlten. Tita hatte ihn eine Woche nach ihrer Ankunft entdeckt. Entgegen Mama Elenas Anordnung hatte John sie nicht in eine Anstalt eingeliefert, sondern bei sich aufgenommen. Tita war ihm dafür unendlich dankbar. Vielleicht hätte sie in einer Anstalt am Ende tatsächlich noch den Verstand verloren. Bei John, der sie mit warmherzigen Worten und geduldiger Zuwendung umsorgte, fühlte sie sich hingegen von Tag zu Tag besser. Wie ein Traum erschien ihr nun in der Rückschau ihre Ankunft in diesem Haus. Vor allem blieb ihr die vage Erinnerung an den heftigen Schmerz, als der Doktor ihre Nase richtete.
Dazwischen tauchten Szenen auf, wie Johns große und liebevolle Hände ihr später die Kleidung abstreiften und sie badeten; dabei hatte er ihr behutsam den gesamten Taubendreck vom Körper gelöst, sie sauber geschrubbt und von oben bis unten einparfümiert. Schließlich hatte er ihr ganz sanft die Haare gebürstet und sie in ein Bett mit frisch gestärkten Laken gelegt.
Diese Hände hatten sie von ihrer grausamen Qual
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