Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)
Nika von
oben bis unten, als sie an der Garderobe nach ihrem Mantel griff.
„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“
Nikas Blick blieb an dem langen, schmalen Spiegel
neben den Kleiderhaken hängen. Für einen total verrückten Augenblick hatte sie
ein Abbild von Sophie darin gesehen; kurze, dunkle Haare, dunkle Augen,
sportliche Figur bei mittlerer Körpergröße. Und ziemlich farbenfroh gekleidet.
Aber seit wann sahen sie sich ähnlich?
Im Vergleich zu Sophie war Nika eher blass. Was
vielleicht an der ungewohnten, neuen Frisur lag. Oder an der stundenlangen
Heulerei? Wirkten ihre Augen deshalb wie dunkle Knöpfe? Gestern waren sie noch
grün gewesen. Moosgrün.
Nika war eben völlig neben der Spur. Vermutlich war
das auch der Grund dafür, dass sie einen von Sophies Pullovern trug, wie sie gerade
erst feststellte.
„Also, Taxi oder…?“
Nika setzte ihre Wollmütze auf und wandte sich von
ihrem Spiegelbild ab. Sie musste keine Hellseherin sein um zu wissen, warum die
Frau auf ihre rissigen Hände starrte. Nikas Hände passten nicht zum Rest ihrer
Erscheinung. Sie waren rau und trocken und wirkten vergleichsweise ungepflegt.
Ganz das Gegenteil von der strassbesetzten True-Religion, die ihren Hintern
schmückte und dem purpurfarbenen Hermès-Krokodil, das über ihrer Schulter hing.
Das war schon seltsam mit der Malerei; immer
beschmierte Nika sich dabei von Kopf bis Fuß. Und das ölige Zeug ging nie so
richtig weg. Blieb einfach in ihren Arbeitskitteln und in den Nagelbetten ihrer
Finger kleben, sosehr sie auch daran schrubbte. Das stellte auch die Sekretärin
gerade fest. So wie alles andere vorher.
Klar. Nika füllte ihre Nachmittage durchaus auch mit
Shopping-Touren. Aber der Geldsack, der ihr den Lifestyle und das zukunftslose
Studium der Malerei und Kunstgeschichte finanzierte, war immerhin ihr Vater.
Nika hatte nicht vor sich dafür zu entschuldigen, zumal sie mit Geld nichts von
alldem kaufen konnte, was ihr wirklich wichtig gewesen wäre.
„Ich nehme die Metro“, murmelte sie im Hinausgehen und
ignorierte sowohl den Blick der Sekretärin als auch deren Staunen über ihr
Vorhaben.
Meine Güte, ja. Nika fuhr mit allgemein üblichen
Verkehrsmitteln, so wie jeder andere Normalsterbliche auch. An einem anderen
Tag hätte Nika garantiert erklärt, dass sie mit der Metro nur deshalb fuhr,
weil ihr Hubschrauber bei der Reparatur war. Oder ihr Pilot krank. Aber heute
fühlte sie einfach nicht danach.
Vor dem
Präsidium öffnete sie den Regenschirm und schlurfte ohne Eile die Straße
entlang. Die Metrostation war nur ein paar Schritte entfernt, trotzdem waren
die Sneaker an ihren Füßen schon auf dem Hinweg durchgeweicht. Jetzt regnete es
sogar noch stärker. Das Wasser lief an ihrem Schirm herunter und vermischte
sich mit der einen, unendlich großen Pfütze, die den gesamten Asphalt bedeckte.
Die Treppe zur Metro erinnerte an eine Wasserrutsche. Nika konnte die einzelnen
Stufen kaum unterscheiden, deshalb tastete sie sich nur langsam herunter und
nahm den Schirm erst dann zum Auszuschütteln zur Seite, als sie beinahe unten
angekommen war. Trotzdem traf ihr Fuß wider Erwarten nicht auf sicheren Boden,
sondern ins Nichts, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Sie sah sich schon im
Dreck landen, hilflos, weil ihre herumfuchtelnde linke Hand keinen
Rettungsanker fand und die rechte den Schirm umklammerte. Aber statt auf der
Nase zu landen glitt Nika in eine Schwerelosigkeit, die den Sturz für sie
stoppte. Ihr Oberkörper richtete sich wie von allein wieder auf, ihre Füße
bekamen festen Boden zurück und Nika fand ihren Verstand wieder. Sie ließ den
Regenschirm fallen, hangelte nach dem glitschigen Handlauf und krampfte sich
daran fest. Dann atmete sie durch.
Bevor sie den
letzten Schritt hinunter wagte, sah sie genau hin. Diesmal verpasste sie die
Stufe nicht.
Sie sah sich um.
Wenn sie nicht
genau gewusst hätte, dass keiner ihrer unsterblichen Babysitter in Paris
unterwegs war, nur um ihr beim Treppensteigen behilflich zu sein, dann hätte
Nika den glimpflichen Verlauf ihres Sturzfluges sicher ihrer Patentante
zugeschrieben. Teresa. Aber die kleine Sphinx im trügerischen Teenagerkostüm
war nirgends zu entdecken. Und überhaupt, Teresa hätte sich längst bemerkbar
gemacht. Sie hätte Nika schon am Präsidium abgefangen. Sie hätte sich an ihren
Arm gehängt, und endlich, endlich hätte Teresa einen handfesten Grund für ihren
alljährlichen Vortrag darüber gefunden, dass ihr
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