Esther Friesner
förmlich fest. Die Einhörner kamen in forschem Trab heran, ihre Hörner brachen das Sonnenlicht wie die Lanzen einer anrückenden Besatzungsstreitmacht.
Mir blieb keine andere Wahl. Ich rannte mitten auf die Straße zurück und baute mich zwischen Mysti und den Einhörnern auf, die verzauberte Sauciere gen Himmel gereckt.
»Halt!« rief ich und ließ die bunten Funken höher denn je schießen.
Die Einhörner wechselten nicht einmal in einen leichteren Arbeitstrab.
»Heda!« ertönte dieselbe barsche Stimme. »Mach Platz, du junger Tor! Ich hege nicht den Wunsch, deine Haut vom königlichen Straßenpflaster kratzen zu müssen.« Aus dem zu allen Seiten der schneeweißen Herde aufstiebenden Staub galoppierte ein grauscheckiges Einhorn mit gebrochenem Horn auf mich zu. Auf seinem Rücken saß ein runzliger, sonnengebräunter Mann, dessen silbernes Haar fast genauso schimmerte wie die Mähnen der Einhörner. Er ritt ohne Sattel, hielt nur eine blauweiße Fahne in der Hand, die von einem dünnen Bambusstab flatterte. Als er näher kam, senkte er den Stab, bis daraus eine Lanze wurde, die genau auf meine Brust zielte. Dabei rief er die ganze Zeit: »Hinweg! Hinweg! Schaff deinen Stinkehintern hinweg!«
Ich traute meinen Augen kaum. »Onkel Corbly?«
Der Mann blinzelte und grub dem grauen Einhorn die Knie in die Flanken, riß an der Mähne des armen Tiers, um es scharf nach links zu lenken. Das Einhorn jaulte und bäumte sich vorn auf. »Kendar?« sagte Onkel Corbly, als sein Reittier sich beruhigt hatte. Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern fuhr herum und brüllte der heranbrausenden Herde entgegen: »Halt!«
Sein »Halt!« funktionierte um einiges besser als meins.
Die Einhörner blieben abrupt stehen. Es war erstaunlich: Nicht ein einziges der Tiere machte noch einen weiteren Schritt. Die Einhörner im hinteren Teil der Herde stolperten nicht gegen die vor ihnen stehenden. Die Einhörner an den Rändern der Herde schlenderten nicht davon, um am Wegesrand zu äsen.
»He! Was ist das für eine Unterbrechung?« rief jemand von hinten.
»Nichts, Torse!« rief Onkel Corbly nach hinten, die Hände zu Schalen um den Mund gelegt. »Nur so ein blöder Junge ohne Menschenverstand, um aus dem Weg zu gehen.«
»Warum hast du ihn dann nicht einfach über den Haufen geritten?« brüllte Torse.
»Kann ich nicht! ‘s ist der Junge meiner Base Abstemia, du weißt schon, die den Edelherrn Lucius Parkland Gangle geheiratet hat, obwohl ihr Vater sie davor gewarnt hat.«
»Ach so.« Kurzes Schweigen im hinteren Teil der Herde.
Dann: »Ein Gangle, wie? Ja, das erklärt natürlich die Blödheit.«
Onkel Corbly gluckste, dann saß er ab und tätschelte dem grauen Einhorn den Hals. »Das ist aber ein seltsames Zusammentreffen. Ich dachte, du wärst noch auf der Zauberschule, aber es sieht ja ganz so aus, als hätten sie dich in Ehren entlassen. Habe noch nie einen Zauberer in brauner Kutte gesehen.«
»Ich bin ein Sonderfall«, antwortete ich. Das war nicht einmal gelogen.
»Ach ja? Und hat man euch Sonderfällen nicht beigebracht, daß es gefährlich ist, sich zwischen eine Herde königlicher Einhörner und …«
Er brach ab, und der Atem stockte ihm, als er unmittelbar hinter mir etwas erblickte.
Ich sah über die Schulter zurück. Mysti hatte den Teppich von sich gewälzt und stand gerade auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern. Ihr Kittel und die Hose waren zerrissen, aber irgendwie sah sie dadurch noch betörender aus denn je.
»Onkel Corbly«, sagte ich, »ich möchte dir meine Frau vorstellen.
Mysti, das ist Corbly Schnassel, Einhornwärter seiner Majestät des Königs Steffan.«
Mystis Lächeln überstrahlte ihr Gesicht trotz allen Schmutzes. »Ich bin ja so erfreut, dich kennenzulernen«, schnurrte sie. »Du liebe Güte!
Einhornwärter des Königs!
Wenn das kein Zufall ist? Kendar hat gerade eben noch zu mir gesagt: >Mysti, unsere einzige Hoffnung, mit dem König zu sprechen, ist mein Lieblingsonkel Corbly, den müssen wir unbedingt aufsuchen.
Jedermann weiß doch, daß König Steffan sich auf ihn verläßt und ihm niemals, niemals etwas ausschlagen würde.<« Sie strich sich das zerzauste Haar hinter die Ohren und fügte hinzu: »Kendar hat die ganze Reise von nichts anderem geredet, immer nur Onkel Corbly, Onkel Corbly …«
»Welfie!« kreischte Onkel Corbly und deutete mit zitterndem Finger auf Mystis verräterische Ohren. Dann sprang er mit einem Satz auf den Rücken seines Einhorns und
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