Eternity
nicht einmal in den schlimmsten Wintern in New York, wenn der Wind durch die Wolkenkratzerschluchten fegte.
»Ich … ich schütze … euch zwei«, sagte sie leise und drängte die Tränen zurück. »D…du verstehst nicht. Er w…wird dich töten, weil du versuchst, mich von ihm fernzuhalten. Er … er wird euch beide töten.«
Alaric hatte sich zu ihr gewandt, einen Arm auf der Rückenlehne der Couch. »Was sagt sie da?«, fragte er Jon.
Jon war grün im Gesicht geworden. »Sie weiß es«, erwiderte er mit schwacher Stimme.
»Was weiß sie?«, fragte Alaric.
»Wie die Menschen sterben werden. Sie hat es immer schon gewusst.« Jon blickte Alaric an. »Das ist so. Sie weiß es einfach. Wenn Meena sagt, er wird uns töten, dann werden wir auch sterben.«
39
Freitag, 16. April, 22.00 Uhr
Apt. 11B
910 Park Avenue, New York
Alaric war klar, dass er es vielleicht ein bisschen übertrieben hatte. Vor allem, als das Mädchen das Handy nach ihm geworfen hatte. Ein Handy!
Aber Meena Harper hatte wesentlich mehr Mut gezeigt, als er erwartet hatte. Natürlich hatte er sich auf sie werfen müssen, um sie festzuhalten. Was hatte er denn für eine Wahl gehabt?
Warum er jedoch die Finger nicht von ihr lassen konnte, wusste er nicht. Das hatte auch ihn überrascht. Sie hatte einfach so eine schöne Haut. So weich und glatt … wie das Wachs, das er auf seine Ski auftrug, wenn er zwischen Weihnachten und Neujahr nach Kitzbühel fuhr.
Er musste sie einfach berühren, auch wenn es sie wütend machte. Na ja, sie machte ihn auch wütend. Er wollte sie ja gar nicht anfassen. Er wollte doch nur wissen, wo der Prinz war, damit er dort hingehen, ihn vernichten, wieder in sein Hotel zurückgehen und ein schönes heißes Bad nehmen konnte.
Er wollte auf keinen Fall in einer Wohnung in New York City herumsitzen, die mit billigen – wenn auch recht bequemen – Ikea-Möbeln eingerichtet war und der großäugigen, seidenhäutigen aktuellen Geliebten des Prinzen der Finsternis gehörte, die anscheinend die mediale Fähigkeit besaß, Leuten vorauszusagen, wann und wie sie sterben würden.
»Sie weiß es?«, fragte Alaric skeptisch.
»Sie irrt sich nie«, erwiderte Jon. »Sie weiß es einfach. Schon als Kind wusste sie es.«
Alaric starrte Meena Harper an. Er hatte schon einiges erlebt, seit er bei der Geheimen Garde war: einen Succubus, der sich mit einem schrillen Schrei aus dem Körper seines abendlichen Spielzeugs verabschiedet hatte, weil Alaric Weihwasser auf ihn gegossen hatte; Chupacabras – die oft mit Koyoten verwechselt wurden, aber eigentlich eine eigene Vampirspezies waren, die den Schafen in Texas das Leben aussaugte. Fanden sie jedoch keine Schafe, begnügten sie sich auch schon mal mit einem schlafenden Kind, wenn sie durch ein offenes Fenster darankamen; Dämonen, die mit aufgerissenen Mäulern auf ihn zuflogen, während ein Priester versuchte, besessene Dorfbewohner in den Bergen von Kolumbien von ihnen zu befreien.
Und er hatte natürlich mehr Vampire erlebt, als ihm lieb war, Vampire, denen das Blut über Kinn und Hemd strömte, während sie sich aus der Dunkelheit auf ihn stürzten und Obszönitäten schrien.
So romantisch sie auch in Filmen und in Büchern dargestellt wurden, in Wirklichkeit verfügten sie über ein großes Schimpfwortvokabular. Lediglich städtische Vampire waren höflicher und taten zumindest ein wenig kultivierter.
Einer Wahrsagerin war Alaric jedoch noch nie begegnet – jedenfalls keiner, die etwas Wichtiges zu sagen gehabt hätte. Er verstand sowieso nicht, warum nicht alle Wahrsager sich selbst die Lottozahlen voraussagten, ihren Gewinn einstrichen und nach Antigua verschwanden.
Der Vatikan glaubte auch nicht an sie – wahrscheinlich aus denselben Gründen wie Alaric. Jedenfalls war keine einzige dort angestellt. Aber Alaric sah an dem ängstlichen Gesichtsausdruck von Meena Harpers Bruder, dass er an die Fähigkeiten seiner Schwester glaubte.
Und Meena selbst wirkte so elend, dass sie wohl auch daran glaubte.
Meena hatte den Hund von ihrem Schoß gescheucht, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Mit ihrer zierlichen Figur, ihren kurzen dunklen Haaren und dem schwarzen Spitzenunterrock sah sie aus wie eine Balletttänzerin.
Eine Balletttänzerin, die einen Nervenzusammenbruch hatte.
An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit hätte Alaric das Zusammensein mit ihr ganz angenehm gefunden, weil sie nicht unattraktiv war.
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