Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
die konsequent am eigenen Vorteil orientiert sind, vom «braven Mann» aber Moral verlangen. Trotz ihrer moralischen Forderungen orientieren sie sich selbst an dem Sprichwort, dass jedem das Hemd näher sei als der Rock. Der Volksweisheit gilt auf der anderen Seite der brave Mann, von dem es heißt, er denke an sich selbst zuletzt, als ein weltfremder Idealist. Neuerdings werden Menschen mit einer solchen Haltung als «Gutmensch» oder «blauäugig» abgewertet.
In solchen Betrachtungsweisen werden die Sorge für sich selbst und die Sorge für andere auseinanderdividiert. Im einen Fall wird die Sorge für sich selbst so in den Vordergrund gerückt, dass die Verantwortung für andere bedeutungslos wird; im andern Fall wird unterstellt, jemand sei so ausschließlich am Wohl anderer orientiert, dass ihm jeder Sinn für einen «gesunden Egoismus» abgehe. Doch diese Trennung ist künstlich; sie versperrt den Zugang zum moralischen und ethischen Sinn der Frage nach den Grundbedürfnissen.
Moralisches Nachdenken gilt der Frage, was ich jedem anderen genauso schulde wie mir selbst; die moralische Frage hat es mit dem zu tun, was für alle gilt: Jeder Mensch ist in seinem Lebensrecht zu achtenund muss deshalb Zugang zur Stillung seiner Grundbedürfnisse haben. Das schließt eine Verantwortung für die eigenen Grundbedürfnisse ebenso ein wie für diejenigen anderer.
Als ethisch (im engeren Sinn) bezeichnen wir demgegenüber die Frage nach dem jeweils eigenen Lebensentwurf; ethischen Charakter tragen die starken Antworten auf die Frage, worin Einzelne oder Gruppen ein gelingendes, gutes Leben sehen. Die einen messen das Gelingen des Lebens am eigenen Erfolg und Wohlstand, andere finden Erfüllung im Einsatz für andere Menschen. Beiden ethischen Haltungen kann man Respekt zollen. Der Respekt vor dem, der sich am eigenen Erfolg orientiert, endet freilich dort, wo dieser Erfolg dadurch erkauft wird, dass andere Menschen nur als Mittel zum Zweck angesehen und nicht als Personen mit eigener Würde geachtet werden. In den Worten Bertolt Brechts: «Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich/Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst./Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich/Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.» (Brecht 1967: 458) Wer den Menschen in sich selbst oder im anderen vergisst, vertritt eine fragwürdige Vorstellung vom guten Leben.
Neben denen, die vor allem die eigene Leistung und den eigenen Erfolg betonen, stehen die anderen, für die der Einsatz für andere von großer Bedeutung ist. Das Handeln dessen, der sich am Wohl anderer orientiert, wird auch dann noch Bewunderung wecken, wenn der Betreffende sich für diese Aufgabe aufopfert. Aber zu bedenken bleibt, dass der Einsatz für andere die Verantwortung für das eigene Leben nicht aufhebt; wer sich selbst aufopfert, hebt auch die Bedingung dafür auf, sich weiterhin für andere einsetzen zu können. Die Selbstaufopferung für andere kann deshalb nur ein äußerstes Mittel, eine
ultima ratio
sein; beispielhaft dafür ist Janusz Korczaks Weigerung, die Kinder seines Waisenhauses im Stich zu lassen, die in das Vernichtungslager nach Treblinka abtransportiert werden sollten. Auch als
ultima ratio
kann man das Selbstopfer nicht moralisch fordern, aber als ethische Lebenshaltung selbst wählen oder bei andern achten, ja bewundern.
Gewiss gehört es zu den Überlebensinstinkten jedes Einzelnen, Möglichkeiten zu suchen, um seine eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Daran ist nichts Unmoralisches; es entspricht vielmehr einem «für alle geltenden Gesetz». Doch die Sorge für sich selbst steht zu der Fürsorge für andere nicht im Widerspruch; vielmehr ist es ein ebensoelementarer moralischer Grundsatz, die eigene Nahrung nicht mit dem Hunger anderer zu erkaufen. Wenn die Mittel zur Stillung der Grundbedürfnisse knapp sind, ist deshalb für deren gerechte Verteilung zu sorgen. Hier kann es moralisch kein Recht des Stärkeren geben. Sind Nahrungsmittel, Wasser, Kleidung oder Wohnraum beschränkt, müssen alle den nötigen Anteil daran bekommen. Gerade in solchen Fällen gilt die Moral des Teilens, sei es durch spontane Hilfsbereitschaft oder durch staatliche Verwaltung des Mangels.
Diese moralische Grundregel kann nicht durch Beispiele außer Kraft gesetzt werden, in denen wegen extrem knapper Mittel das Überleben aller Beteiligten ausgeschlossen ist. Unter ihnen wird das Bild vom Rettungsboot, das nicht alle
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