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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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als «Mängelwesen» beschreibt die Bedürftigkeit des Menschen allerdings auf höchst problematische Weise (Gehlen 1940 unter Berufung auf Herder 1772). Denn die Naturausstattung des Menschen lässt sich gar nicht ohne seine Vernunftbegabung interpretieren; er ist gerade in seiner Fähigkeit, kulturell mit seiner Welt umzugehen, Teil der Natur. Wenn man den Menschen ein «Mängelwesen» nennt, muss man zugleich davon sprechen, dass er ein «Fähigkeitswesen» ist (vgl. Brede 1980).
Grundbedürfnisse und Moral
    Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheitsschutz und Gemeinschaft zählt man zu den menschlichen Grundbedürfnissen, den
basic needs
(International Labour Organisation 1976). Absolute Armut liegt dann vor, wenn diese Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden können, wenn es Menschen also an Nahrungsmitteln und Wasser, an Kleidung und Obdach, an Hygiene und ärztlicher Hilfe, an menschlicher Zuwendung und Fürsorge fehlt.
    Diese Art von Armut ist in der gegenwärtigen Welt ein Massenphänomen. Die Weltbevölkerung wird derzeit auf sieben Milliarden Menschen geschätzt; sie wächst jedes Jahr um 79 Millionen Menschen. Nahezu eine Milliarde Menschen sind unterernährt; noch größer ist die Zahl derer, die keinen Zugang zu sauberem Wasser und hygienisch erträglichen Lebensbedingungen haben. Solche Verhältnisse gefährden menschliches Leben und Überleben unmittelbar.
    Menschen nicht sich selbst zu überlassen, wenn ihnen das Elementarste zum Leben fehlt, ist deshalb eine Grundforderung der Mitmenschlichkeit. Bertolt Brechts Aussage in der «Dreigroschenoper», erst komme das Fressen, dann die Moral (Brecht 1967: 457), erscheint aus dieser Perspektive trotz ihrer Popularität als falsch. Das zeigt sich an der Begründung, mit der Brecht diesen Satz versieht: «Erst muss es möglich sein auch armen Leuten/Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.» Denn es ist abwegig, den Anspruch der Armen auf Teilhabe als eine Erwartung jenseits der Moral anzusehen; dieser Anspruch gehört vielmehr in deren Kernbereich.
    Präziser ist es, wenn in der Predigt Jesu über das Weltgericht die Grundbedürfnisse zum Maßstab für das Urteil genommen werden, dem jedes menschliche Leben ausgesetzt ist (Matthäus 25,31ff.). Auffällig an diesem Grundtext des christlichen Ethos ist, dass sich von den dort genannten sechs Werken der Barmherzigkeit drei auf materielle Grundbedürfnisse richten, nämlich Essen, Trinken und Kleidung, während die drei anderen vom Grundbedürfnis auf Anerkennung und Kommunikation ausgehen und die Situationen des Fremdseins, der Krankheit und der Gefangenschaft thematisieren. Die christliche Tradition hat diesen sechs Werken der Barmherzigkeit als siebtes das Bestatten der Toten hinzugefügt; sie hat damit hervorgehoben, dass die liebevolle Achtung des anderen Menschen mit seinem Tod nicht zu Ende ist (Luz 1997: 522). Dietrich Bonhoeffer hat dieser Tradition folgend den «Rechten des natürlichen Lebens» einen hohen ethischen Rang zuerkannt; er gliedert sie in das Recht auf das leibliche Leben und in die Rechte des geistigen Lebens und wehrt damit die Vorstellung ab, das «natürliche Leben» lasse sich auf den Bereich der physiologischen Bedürfnisse beschränken (Bonhoeffer 1992: 179ff.).
    Die christliche Ethik nimmt die materiellen Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens ernst, isoliert sie aber nicht. Die Evangelien warneneindringlich davor, sich allein auf die elementaren Lebensbedürfnisse zu konzentrieren. Das geschieht beispielsweise durch die Aufnahme des alttestamentlichen Zitats: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht» (Matthäus 4,4; vgl. 5. Mose 8,3). Dieselbe Relativierung der Grundbedürfnisse begegnet in der bekannten Aussage Jesu in der Bergpredigt: «Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?» (Matthäus 6,25) Das Wohl des Menschen ist im Blick – doch mit seinem Heil ist es nicht identisch.
Erst das Fressen, dann die Moral?
    In eine andere Richtung weist Bertolt Brechts schon zitierte Aussage, erst komme das Fressen, dann die Moral. Die in ihr liegende Entgegensetzung lässt sich am ehesten so erklären, dass mit dem «Fressen» die Stillung der eigenen Bedürfnisse, mit der Moral dagegen die Rücksichtnahme auf andere gemeint ist. Pointiert entlarvt Brecht den Egoismus derer,

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