Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
genetisch oder durch Chromosomenstörungen verursacht sind. Genetisch verursachte Erkrankungen wie die Chorea Huntington oder Chromosomenstörungen wie das Down-Syndrom bilden jedoch nur einen geringen Teil der Beeinträchtigungen, die sich lebenslang auswirken. Querschnittlähmungenauf Grund von Unfällen oder krankheitsbedingtes Erblinden haben für die Betroffenen vergleichbar existentielle Auswirkungen. Der übliche Blick auf Behinderungen ist auch deshalb verengt, weil er zumeist nur körperliche und geistige Beeinträchtigungen in den Blick nimmt; aber auch psychische Erkrankungen beeinflussen eine Lebensgeschichte dramatisch. Es wäre deshalb eine falsche Fixierung auf die genetische Ausstattung des Menschen, wenn man Behinderungen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer vorgeburtlichen Entstehung betrachten würde. Ebenso kurzsichtig ist die Vorstellung, gendiagnostische Maßnahmen, gentechnologische Eingriffe und die Verhinderung der Geburt von Menschen mit genetischen Beeinträchtigungen würden etwas an der Aufgabe ändern, Menschen mit Behinderungen anzunehmen, sie in ihrer Würde zu achten, ihr Leiden zu mindern und ihnen so weit wie irgend möglich dabei zu helfen, ein erfülltes Leben zu führen.
* Der § 1 des Gesetzes lautet: «Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.»
** UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006, in Kraft getreten am 3. Mai 2008.
5. Grundbedürfnisse
Gehört das Essen nicht zur Moral?
Das aus Lumpen zusammengestückelte Zelt in einem südsudanesischen Flüchtlingslager steht mir vor Augen, als hätte ich es erst gestern gesehen. Frauen kauerten sich mit ihren Kindern auf einer zerschlissenen Matte in den schmalen Schattenstreifen, den das Zelt gerade noch warf. Ein Säugling saugte an der schlaffen Brust seiner Mutter, obwohl aus ihr kaum noch Milch kommen konnte. Die anderen litten erst recht unter Hunger und Durst. Die Bäuche der Kinder waren aufgedunsen; an den Körpern der Erwachsenen ließen sich die Rippen zählen. Dass es ihnen allen an jeder ärztlichen Versorgung fehlte, war unübersehbar. Den Kleinen liefen die Nasen, die Münder der Älteren waren nahezu zahnlos. Aus eitrigen Augen sahen sie uns traurig an. Für das ganze Lager war mit ausländischer Hilfe ein einziger Brunnen gebohrt worden; er war umzäunt, da er sonst durch den Ansturm derer, die ihren Durst löschen und sich waschen wollten, schon bald unbrauchbar geworden wäre. Verständigen konnten wir uns nur mit Blicken und Gesten. Doch schon bei der ersten zarten Berührung eines kleinen Kindes warnte ein Begleiter vor der Gefahr einer Ansteckung.
Was sind Grundbedürfnisse?
Ein Zelt unter der Sonne des Sudan zeigt, worauf die menschlichen Grundbedürfnisse sich richten: auf das, was man als erstes braucht, wenn man nichts hat. Menschen müssen essen und trinken, sie brauchen Luft zum Atmen und einen Platz zum Schlafen. Sie sind auf Kleidung angewiesen, die sie vor Kälte und Hitze schützt. Sie brauchen ein Obdach und die Nähe anderer Menschen.
Die Grundbedürfnisse des Menschen hängen mit den natürlichen Lebensbedingungen zusammen: Der Mensch sucht Schutz vor Hunger und Durst, vor Hitze und Kälte, vor Krankheit und Kraftlosigkeit. Aber die Grundbedürfnisse sind nicht auf die Leiblichkeit des Menschen beschränkt; sie lassen sich nicht in einer hierarchischen Abfolge in leibliche, soziale und individuelle Bedürfnisse unterteilen, wie das von dem amerikanischen Psychologen Abraham H. Maslow erstmals 1943 vorgeschlagen wurde (Maslow 1981). Die emotionalen Bedürfnisse des Menschen sind vergleichbar elementar wie seine physischen Bedürfnisse. Seine Sozialität tritt nicht sekundär zu seiner Leiblichkeit hinzu; der Mensch ist vielmehr von seiner Natur her auf Sozialität angelegt. Er ist nicht dazu geschaffen, allein zu sein, er ist auf Kommunikation angewiesen. Sein Leben ist durch eine Bedürftigkeit geprägt, der er aus eigenen Kräften nicht entsprechen kann. Vom Tier unterscheidet er sich unter anderem dadurch, dass er ohne kulturelle Artefakte nur schwer überleben kann. Vor allem aber ist er darauf angewiesen, dass andere für ihn sorgen; dadurch lernt er, auch selbst die Sorge für andere als einen Teil seines Lebens zu verstehen.
Die These vom Menschen
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