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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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stößt er nicht nur auf sich selbst, sondern geht über sich hinaus und fragt nach Gott.
    Je weiter menschliche Erkenntnis ausgreift und menschliche Verfügungsmacht reicht, desto wichtiger wird es sein, dass diese Erkenntnis nicht über das Leben herrscht, sondern dem Leben dient. Dafür wird der entscheidende Prüfstein sein, ob der Mensch in solchen Veränderungen als Person geachtet, in seiner Würde und Freiheit respektiert und ob sein Leben in seiner Endlichkeit angenommen wird.
Jeder Mensch hat seine eigene Würde
    Der Einsicht, dass alles individuelle Leben begrenzt und alle individuelle Freiheit endlich ist, kommt für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen eine große Bedeutung zu. Idealtypisch lassen sich ihnen gegenüber drei Einstellungen unterscheiden: Ihre Behinderung wird als ein unabänderlicher Irrtum der Natur angesehen; man betrachtet sie als einen grundsätzlich behebbaren Mangel; oder man geht davon aus, dass jedem Menschen unabhängig von seinen Beeinträchtigungen eine unbedingte Anerkennung zukommt. Die erste Position kann dahin führen, dass die Betroffenen nicht als Menschen geachtet und deshalb aus der Gemeinschaft Gleicher ausgeschlossen werden. Die zweite Position zielt darauf, Menschen mit Behinderungen so weit wie möglich an gesellschaftliche Normen heranzuführen, sie damit aber auch an einer vorgegebenen Vorstellung von Normalität zu messen. Das kann unter bestimmten Umständen Leistungsfähigkeit und Lebensqualität steigern, es kann aber auch zu qualvollen Überforderungen führen. Inklusion, die an solchen Normvorstellungen orientiert ist, kann sich insofern ambivalent auswirken. Die dritte Position schließlich zielt auf eine Anerkennung, die durch Verschiedenheit nicht eingeschränkt wird. Sie beruht auf der Achtung vor der gleichen Würde jedes Menschen, unabhängig von allen Unterschieden, die jeweiligen gesundheitlichen Gegebenheiten und Befähigungen eingeschlossen. Das Bemühen darum, Beeinträchtigungen zu vermindern und Partizipationschancen zu erhöhen, ist in einer solchen Betrachtungsweise nicht die Voraussetzung für gesellschaftliche Inklusion, sondern folgt aus dem Respekt vor der unantastbaren Würde eines jeden Menschen. Ihn zu fördern bedeutet gerade, die Bedingungen ernst zu nehmen, unter denen dieser besondere Mensch sein Leben zu führen hat.
    Die Anerkennung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen sind in der Neuzeit zu zentralen ethischen Prinzipien geworden. Sie haben sich nicht nur dank philosophischer oder theologischer Einsichten durchgesetzt, sondern die Anerkennung dieser Prinzipien ist das Ergebnis komplexer Wertbildungsprozesse. In ihnen spielt, wie der Soziologe Hans Joas gezeigt hat, die Erfahrung erlittener Entwürdigung eine ebenso wichtige Rolle wie diekognitive Einsicht in die gleiche Würde jedes Menschen (Joas 2011: 108ff.). Nicht nur Sklaverei, Sexismus und Rassismus waren in der Neuzeit Demütigungen, gegen die sich das Bewusstsein der gleichen Würde jedes Menschen durchsetzen musste. Auch die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen gehört zu diesen Demütigungen. Ob die gleiche Würde der Verschiedenen ernst genommen wird, muss sich deshalb auch an der gesellschaftlichen Stellung von Menschen mit Behinderungen zeigen.
    Diese Einsicht hat sich auch in der Gesetzgebung niedergeschlagen. Dass der Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 des deutschen Grundgesetzes sich auch in diesem Bereich auswirken muss, wird daran deutlich, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 Menschen mit Behinderungen ausdrücklich einbezieht.[ * ] Ein ebenso deutliches Zeichen ist darin zu sehen, dass die jüngste Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen der Lage von Menschen mit Behinderungen gewidmet ist.[ ** ]
    Rechtstexte machen keine Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit; sie enthalten Normen, an denen diese Wirklichkeit zu messen ist. Doch auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kommt der Wahrnehmung von Behinderten und ihrer Förderung inzwischen ein höherer Rang zu als früher. Umso zwiespältiger wirkt auf viele Betroffene eine gesellschaftliche Situation, in der das Geborenwerden von Behinderten nach Möglichkeit unterbunden wird, die Lebensbedingungen Behinderter aber nach Möglichkeit verbessert werden (vgl. van den Daele 2005).
    Eine solche Betrachtungsweise greift indessen zu kurz. Sie lenkt die Aufmerksamkeit allein auf diejenigen Einschränkungen, die

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