Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
zumindest. Die Einkommen aus Managertätigkeit steigen zugleich dramatisch an; das gilt phasenweise auch für die Einkommen aus Aktienbesitz.
Absolute Armut, durch die Menschen das Nötigste zum Leben fehlt, und steigende soziale Disparitäten bilden die beiden größten Herausforderungen für eine Ethik, die sich am Maßstab sozialer Gerechtigkeit orientiert.
Was ist Gerechtigkeit?
Klassische Bedeutung hat die Definition des römischen Juristen Ulpian, wonach die Gerechtigkeit in dem festen und beständigen Willen besteht, jedem sein Recht zuzuerkennen
(ius suum cuique tribuere)
. Durch die geläufige Kurzfassung «Jedem das Seine»
(suum cuique)
wird das berühmte Zitat vergröbert; es lässt sich geradezu in diskriminierender Absicht einsetzen, wie seine Verwendung an den Eingangstorenzum Konzentrationslager Buchenwald oder zum Township Katutura bei Windhoek, der Hauptstadt Namibias, zeigt. Aber auch Ulpians sorgfältige Definition wirft viele Fragen auf.
Die Probleme mit der Gerechtigkeit hat der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Amartya Sen in ein anschauliches Gleichnis gefasst. Es handelt von drei Kindern und einer selbst gebastelten Blockflöte. Der Streit geht um die Frage: Wem gehört diese Blockflöte? Anne meldet sich als erste und sagt: «Natürlich gehört die Blockflöte mir, denn ich bin die einzige, die auf dieser Flöte spielen kann.» «Nein, nein», wendet Carla ein, «selbstverständlich gehört sie mir, denn ich bin schließlich diejenige, die diese Blockflöte gemacht hat.» «Keine Rede davon», meldet sich schließlich Bob, «diese Blockflöte gehört klarerweise mir, denn ich bin schließlich der ärmste unter uns dreien.» (Sen 2010: 41ff.)
Obwohl die Frage der Gerechtigkeit theoretisch wie praktisch so kompliziert ist, wie dieses Gleichnis zeigt, findet man in der Tradition des Nachdenkens darüber einige klare Orientierungspunkte. Zu ihnen gehört seit der griechischen Antike die Feststellung, dass die Befolgung des Rechts zugleich als Erfüllung der Gerechtigkeit anerkannt wird. Gerechtigkeit wird deshalb im formalen Sinn als
iustitia legalis
betrachtet. Wird dagegen das Recht verletzt, so tritt die Gerechtigkeit in ihrer wiederherstellenden und korrigierenden Funktion in den Blick. Sie wirkt als
iustitia correctiva
. So formal beide Begriffe sind, so kann man nicht bezweifeln, dass jedes menschliche Zusammenleben auf diesen doppelten Aspekt der formalen Gerechtigkeit angewiesen ist. Die Verlässlichkeit des Rechts und die Allgemeinheit der Rechtsbefolgung bilden unumgängliche Voraussetzungen des sozialen Zusammenhalts.
Einen wichtigen Schritt über den Begriff der formalen Gerechtigkeit hinaus hat Aristoteles mit seiner bahnbrechenden Unterscheidung zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit getan. Er sieht darin die beiden entscheidenden Charakteristika der materialen Gerechtigkeit. Austeilend oder distributiv ist sie aus der Perspektive des Gemeinwesens, das jeder und jedem Einzelnen diejenigen Rechte zuweist, die ihr oder ihm kraft des Status oder der Verdienste der Person zukommen. Unterschiedliche Bürgerrechte, die unterschiedliche Rechtsstellung von Männern und Frauen eingeschlossen, hat Aristoteles mit diesem Begriff der Gerechtigkeit für vereinbar angesehen. Ausgleichend oder kommutativ ist die Gerechtigkeit aus der Perspektive von zwei oder mehr Rechtssubjekten,die miteinander einen Vertrag abschließen – beispielsweise einen Kauf- oder einen Arbeitsvertrag. Der gerechte Preis und der gerechte Lohn sind geläufige Beispiele für diese Sphäre der ausgleichenden Gerechtigkeit.
Die neuere Diskussion hat neben diese beiden auf Aristoteles zurückgehenden Elemente der materialen Gerechtigkeit als drittes die Beteiligungsgerechtigkeit gestellt (Bedford-Strohm 1993: 89ff., 306ff.). Neben die distributive und die kommutative tritt damit die kontributive Gerechtigkeit. Der Blick richtet sich auf die Einzelnen, die ihren Beitrag zum Gemeinwesen leisten, ihre Begabungen konstruktiv einsetzen und auch im Blick auf den eigenen Lebensunterhalt das ihnen Mögliche tun wollen. Es ist kein Zufall, dass die kontributive Gerechtigkeit in einer Zeit die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, in der große Gruppen sich durch hohe Arbeitslosigkeit von der Möglichkeit aktiver Beteiligung ausgeschlossen sahen. Sie fanden in der organisierten Erwerbsarbeit keine zureichenden Chancen, ihre eigenen Begabungen einzubringen und ihren Lebensunterhalt durch eigene Leistung zu
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