Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
sichern.
Dieser Strang der Gerechtigkeitsdiskussion ist maßgeblich durch die antike Philosophie geprägt; Aristoteles gilt zu Recht als Stammvater dieser Betrachtungsweise. Gibt es zu diesem Thema auch einen Beitrag der anderen großen Überlieferungslinie, von der die europäische Kultur geprägt wurde, nämlich der jüdisch-christlichen Tradition? Schaut man auf die biblische Rede von Gerechtigkeit, so stößt man bei allen Unterschieden zwischen dem alttestamentlichen und dem neutestamentlichen Befund auf einen Grundzug, der sich mit einem glücklichen Ausdruck des Ägyptologen Jan Assmann als «konnektive Gerechtigkeit» bezeichnen lässt (Assmann 1990: 60ff.; Huber, Gerechtigkeit 2006: 190ff.). Gerechtigkeit ist ein Beziehungsbegriff; er hat es mit der Verknüpfung von Lebenssphären zu tun (vgl. Walzer 1992) und zielt auf Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung. Gerechtigkeit bezieht sich zuallererst auf die Beziehung Gottes zum Menschen, auf Gottes zurechtbringende Gerechtigkeit, die im dankbaren Bekenntnis der Glaubenden und in ihrer Treue zu Gottes Weisung ihre Antwort findet. Von hier aus beschreibt Gerechtigkeit sodann eine Ordnung der Beziehungen zwischen den Menschen auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten, die in dieser Tradition angelegt ist. Ihr zufolge wird das Sein des Menschen nicht von seinen Taten her, sonderndie Taten des Menschen werden von seinem Sein her beurteilt. Der Mensch wird unter dem Gesichtspunkt angesehen, dass er mehr ist, als er selbst aus sich macht. Genau das ist gemeint, wenn von der Unantastbarkeit seiner Würde die Rede ist. Aus der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten erklärt sich, warum im Rechtsstaat auch ein würdelos Handelnder in seiner Würde geachtet und ein Rechtsbrecher dem Recht gemäß behandelt wird.
Ein zusätzliches Moment kommt mit der Verbindung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ins Spiel. Die Gerechtigkeit gilt ohne Ansehen der Person. Eben deshalb brauchen die Schwächeren, die Opfer von Ungerechtigkeit, besondere Aufmerksamkeit; denn ohne ein solches Korrektiv würde sich die Aufmerksamkeit, das «Ansehen», ohnehin den Stärkeren zuwenden. Zur biblischen Tradition des Gerechtigkeitsdenkens gehört deshalb eine Haltung, die heute auf den Begriff der «vorrangigen Option für die Armen» gebracht wird (Bedford-Strohm 1993: 150ff.). In diesem Sinn enthält das biblische Rechtsdenken eine Tendenz zur sozialen Gerechtigkeit; es befragt Ungleichheiten daraufhin, ob sie vor dem Maßstab der Gerechtigkeit Bestand haben können. Die Zielrichtung der Gerechtigkeit ist eine Verbesserung für die schwächsten Glieder des Gemeinwesens.
Diese Zielrichtung wird zusätzlich durch den Aspekt der Hoffnung verstärkt: Zustände der Ungerechtigkeit werden in der Hoffnung auf zunehmende Gerechtigkeit verändert; jede gegebene menschliche Ordnung trägt deshalb einen vorläufigen und überbietbaren Charakter (Huber, Gerechtigkeit 2006: 200ff.). Dieser Aspekt lässt sich im Begriff der transformativen Gerechtigkeit zusammenfassen.
Soziale Gerechtigkeit
Die beiden zuletzt genannten Motive im biblischen Gerechtigkeitsverständnis – die vorrangige Option für die Armen und der transformative Charakter der Gerechtigkeit – haben freilich immer wieder Einwände ausgelöst. Gegen eine aus dieser Tradition gespeiste Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit wurde häufig der Vorwurf der «Sozialromantik» erhoben; es wurde ferner geltend gemacht, ein solches Verständnis lasse sich von einem einseitigen Vorrang der Gleichheit vor der Freiheit leiten.
Die Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit führt jedoch in die Irre. Das lässt sich beispielhaft an der Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Rechtsphilosophen John Rawls zeigen, die von der «gleichen Freiheit für alle» ausgeht (Rawls 1975: 223ff.). Gerechtigkeit bedeutet, dass jeder einen Anspruch auf den gleichen Zugang zur Freiheit hat; insofern gehören Freiheit und Gleichheit zusammen. Der gleiche Zugang zur Freiheit führt jedoch zu Unterschieden in der Gesellschaft; deshalb muss geprüft werden, welche Art von Unterschieden mit dem Prinzip des gleichen Zugangs zur Freiheit vereinbar ist. Dafür entwickelt Rawls das «Unterschiedsprinzip». Es bezeichnet die Bedingungen, unter denen die höheren Freiheitsgrade und besseren Entfaltungsmöglichkeiten der Bessergestellten auch von den
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