Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
falsch beziehungsweise als gut oder schlecht zu erkennen und dafür Gründe zu haben. Das Gewissen ist zwar persönlich, aber es ist zugleich offen für den Diskurs.
Der Zugang zur Frage der Gewissensbildung war über lange Zeit dadurch verstellt, dass das Gewissen als eine naturgegebene Anlage im Menschen angesehen wurde. Davon war die Gewissenspraxis in den christlichen Kirchen geprägt, die um Beichte und Buße konzentriert war. Sie ging davon aus, dass der Mensch gegen das Gebot Gottes verstieß und deshalb ein «schlechtes» Gewissen hatte. Der Verstoß musste aufgedeckt, Reue geweckt, Absolution zugesprochen werden. Eine andere Frage stellte sich im Blick auf Abweichungen von der kirchlichen Lehre. An ihnen zeigte sich, dass das Gewissen sich im Irrtum befinden kann. Mittelalterliche Kirchenlehrer wie Thomas von Aquin waren davon überzeugt, dass auch das schuldlos irrende Gewissen zu respektieren sei (vgl. Pfürtner 1988: 161ff.). Doch das änderte nichts daran, dassHäretiker und ihre Bücher auf Scheiterhaufen enden konnten (Fuld 2012).
Erst im 20. Jahrhundert setzte sich der Gedanke weithin durch, dass das Gewissen sich im Lauf der menschlichen Entwicklung formt. Die entsprechenden Theorien (insbesondere von Erik Erikson, Jean Piaget und Lawrence Kohlberg) waren an der Autonomie des Gewissens, der Ich-Identität und der Verpflichtung auf universalistische Prinzipien orientiert (vgl. Flammer 2009: 93ff., 129ff., 171ff.). Weil dies als Kennzeichen eines erwachsenen Moralbewusstseins galt, ergab sich der Umkehrschluss, dass beim Kind ein solches Moralbewusstsein noch fehle. Daraus leitete beispielsweise Lawrence Kohlberg ab, das frühkindliche Moralverständnis sei rein instrumentell: Regeln würden befolgt, um Strafen zu vermeiden. Doch genauere Beobachtung zeigt, dass schon kleine Kinder helfen, teilen oder trösten. Ihre Zuwendung zu anderen ist keineswegs von der Angst vor Strafe bestimmt. Sie lernen durch die Kommunikation mit ihren Bezugspersonen auch schon früh den Unterschied zwischen moralischen Regeln, bei denen Erwachsene auf strikter Einhaltung beharren, sozialen Regeln, die von einem bestimmten Kontext abhängen, und bloßen Konventionen, die für Veränderungen offen sind (Nunner-Winkler 1998: 120). Solche Beobachtungen haben dazu Anlass gegeben, die Idee einer ursprünglichen Gewissensanlage mit dem Gedanken der Gewissensbildung zu verbinden (Mokrosch 1998). Kinder entwickeln früh ein sensibles Gewissen, aber sie lernen erst im Lauf der Zeit, dieses Gewissen als verpflichtende Motivation für eigenes Verhalten anzuerkennen und dabei moralische Prinzipien und ethische Überzeugungen auf komplexe Sachverhalte anzuwenden. Auf diese Weise zeigen sich im Prozess der Gewissensbildung die beiden Grundelemente, auf die wir schon aufmerksam wurden: die Verbindlichkeit des Gewissens und die Fähigkeit zum gewissenhaften Urteilen und Handeln. Neben die Urteilsfähigkeit in Fragen des Richtigen und des Guten sowie die Bereitschaft, moralische und ethische Verbindlichkeiten im eigenen Verhalten anzuerkennen, tritt als drittes Element der Gewissensbildung schließlich der Respekt für die Gewissensbindung und die handlungsleitenden Prinzipien anderer.
Zur Gewissensbildung gehört die Befähigung zum selbständigen Urteil in moralischen und ethischen Fragen. Moralische Fragen, so sahen wir, haben es mit dem zu tun, was alle angeht; sie werden danach entschieden,ob etwas «richtig» oder «falsch» ist. Ethische Fragen haben es mit dem zu tun, wie der Einzelne sein Leben führen will; sie werden danach entschieden, ob etwas «gut» oder «schlecht» ist.
Nicht alle Fragen sind von moralischer Natur; neben richtigen und falschen Handlungen gibt es solche, die moralisch indifferent sind. Nicht bei allen Fragen ist abzusehen, welche Bedeutung ihnen für die persönliche Lebensführung zukommt. In vielen Fällen wird es nicht möglich sein, eindeutig zwischen «gut» und «schlecht» zu unterscheiden. Oft kommt man über vorrangige Optionen nicht hinaus; man hat dann zwischen Besserem und weniger Gutem, manchmal sogar zwischen Schlechtem und weniger Schlechtem zu wählen. Zur Gewissensbildung gehört deshalb nicht nur die Fähigkeit, in klaren Situationen klar entscheiden zu können; sie schließt auch die Bereitschaft dazu ein, in moralisch indifferenten Fragen Freiheit zu gewähren und gerade bei ethisch unklaren Fragen auf den Rat anderer zu achten. Aber auch gefestigte Gewissensüberzeugungen sind der
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