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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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Gründe der Heiligen Schrift oder der Vernunft aufgezeigt würden. Abschließend stellte Luther wörtlich fest, er sei «uberwunden durch die Schriften, so von mir gefurt (das heißt: durch dievon ihm zitierten Bibelstellen) und gefangen im gewissen an dem wort gottes, derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich (das heißt: gefährlich) ist. Gott helf mir! Amen.» Luthers Verlagslektoren in Wittenberg, denen die Wormser Rede alsbald zugesandt wurde, spitzten deren Wortlaut sofort in gekonnter Weise zu und gaben dem Schluss die Fassung: «Ich kann nicht anders/hier stehe ich/Gott helfe mir/Amen.» Der protestantische Volksmund veränderte die Reihenfolge dieser knappen Sätze und ließ sie mit dem «Hier stehe ich» beginnen – jenen Worten, die inzwischen sogar auf einer «Luthersocke» zu lesen sind (Schilling 2012: 222f.).
    Luthers Reaktion auf die Aufforderung Kaiser Karls V. enthielt bereits Hinweise darauf, dass mit ihr auch das Verständnis des Gewissens eine entscheidende Wendung nahm. Das zeigt sich auch schon in einer kurz vor der Reise nach Worms gehaltenen Predigt, in der Luther drei Dimensionen des Gewissens voneinander unterscheidet (Luther 1521; vgl. Kittsteiner 1995: 195ff.). Den äußersten Kreis bilden die Pflichten, die aus sozialem Zwang befolgt werden und auf ihre Weise entlastend, aber auch belastend wirken können; den mittleren Kreis bilden die ethischen Haltungen wie Friedfertigkeit, Geduld und Treue, in denen sich die «rechte Straße» menschlichen Lebens und Handelns zeigt. Doch jeder Mensch weiß, dass er mit der Erwartung, dass er all das aus innerem Antrieb tut, überfordert ist; er spürt, dass er diese «rechte Straße» nicht aus eigener Kraft gehen kann, sondern ganz und gar auf die erneuernde Kraft der göttlichen Gnade angewiesen ist. Diese Erfahrung des Neubeginns aus Gottes Gnade ist der innerste Kreis des Gewissens; in ihm zeigt sich nach dem rituellen und dem ethischen dessen theologischer Sinn.
    Diesen dreifachen Sinn des Gewissens muss man vor Augen haben, wenn man den Nachdruck verstehen will, mit dem Luther sich vor Kaiser und Reich auf sein Gewissen beruft. Luther rückt den theologischen Sinn des Gewissens in den Vordergrund und spricht pointiert von einem «in Gottes Wort gebundenen Gewissen». Er versteht das Gewissen nicht als Substanz, sondern als Beziehung. Das Gewissen hat in diesem Verständnis also sowohl einen personalen als auch einen relationalen Charakter (Ebeling/Koch 1984: 3f.).
    In Luthers Auseinandersetzung mit den politischen Autoritäten seiner Zeit und in deren weltgeschichtlichen Folgen gründet der neuzeitlicheKampf um die Anerkennung der Gewissensfreiheit und mit ihr um die Gewährleistung der Meinungs- wie der Glaubensfreiheit. Weil hier ein besonderer Kern des neuzeitlichen Menschenrechtsgedankens liegt, entwickeln sich die Menschenrechte in der Neuzeit vor allem als Grenzziehungen für die Ausübung legitimer staatlicher Gewalt. Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit sind besonders markante und zugleich besonders sensible Maßstäbe dafür, ob die Gewalt, über die der Staat ein Monopol hat, der Herrschaft des Rechts unterworfen ist. Die Menschenrechte bilden das entscheidende Instrument dafür, die Vorordnung des Rechts vor die Gewalt zu sichern. Doch die Verletzung der Menschenrechte ist nach wie vor allgegenwärtig. Einschränkungen der Glaubens- und Meinungsfreiheit sind globale Erscheinungen. Global wird aber auch die Anerkennung der Menschenrechte gefordert. Für sie werden freilich in den verschiedenen religiösen, kulturellen und politischen Traditionen unterschiedliche Begründungen gegeben.
    Die Gewissensfreiheit gehört in den Kernbereich des neuzeitlichen Menschenrechtsdenkens. Das Gewissen gilt in der philosophischen und theologischen Tradition zugleich als die entscheidende Instanz des moralischen Urteils. Doch was bedeutet es, ein Gewissen zu haben?
Was ist mit dem Gewissen gemeint?
    Das deutsche Wort «Gewissen» ist aus der Übersetzung eines griechischen beziehungsweise lateinischen Worts
(syneidesis, conscientia)
entstanden, das «Mitwissen» bedeutet. Beim frühesten Aufkommen dieses Wortes ist zunächst das Mitwissen mit dem Handeln anderer, dann aber schon bald das «Mitwissen mit sich selbst» im Blick. Dieses begleitet den Menschen in seiner Lebensführung; sie trägt dadurch einen reflexiven Charakter. Das Gewissen wird als die Instanz verstanden, in

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