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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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Überprüfung zugänglich. Einem andern im Blick auf solche Überzeugungen Gegenargumente zu bedenken zu geben, zeugt nicht von einer Geringschätzung seiner Gewissensentscheidung, sondern ist ein Angebot zu deren Überprüfung (Härle 2000: 905).
    Gewissensbildung vollzieht sich sowohl im Bereich der primären Sozialisation in der Familie oder in kleinen Netzwerken als auch im Bereich der sekundären Sozialisation, vor allem in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Wer im einen oder anderen Bereich an Erziehung beteiligt ist, muss wissen, von welchem Bild der menschlichen Person und ihres Gewissens er sich leiten lässt, denn in den unterschiedlichen Erziehungsstilen spiegeln sich unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Gewissen ist und wie Gewissensbildung zu erfolgen hat.
    Ein autoritärer Erziehungsstil orientiert sich bewusst oder unbewusst am «folgsamen Gewissen»; er bahnt damit gerade nicht einem reflexiven «Mitwissen mit sich selbst» die Bahn. Ein dialogischer Erziehungsstil orientiert sich am «mündigen Gewissen»; er bezieht die Achtung vor der sich entwickelnden Eigenständigkeit der Person schon auf frühen Stufen der Entwicklung in sein Erziehungsverhalten ein. Wer das versucht, hat zugleich rechtzeitig und klar Grenzen zu setzen; denn wer aus Gründen eines «antiautoritären» Erziehungsstils auf klare Regeln für Tun oder Unterlassen verzichtet, entzieht einem wichtigen Element in der Ausbildung des Gewissens den Boden, nämlich der Erfahrung von Verbindlichkeit.Sie aber ist neben der Ausbildung von Urteilsfähigkeit das zweite, gleich wichtige Element im Gewissen.
    Schließlich gehört der Respekt vor der Gewissensbindung anderer zur Gewissensbildung. Schon Kinder und Jugendliche sind unter pluralistischen Bedingungen mit der Verschiedenheit von Verhaltensweisen, Lebensformen und Überzeugungen konfrontiert. Auf ihre Weise müssen sie bereits aushandeln, in welchen Fragen gleiche Verhaltensstandards gelten sollen und in welchen Bereichen Verschiedenheiten akzeptiert werden können. Die Unterscheidung zwischen Mein und Dein, das Befolgen von Spielregeln oder die Achtung vor religiösen Überzeugungen und Riten sind frühe Beispiele für die Notwendigkeit wechselseitigen Respekts. Je früher Achtung füreinander geweckt und Toleranz eingeübt wird, desto größer sind die Chancen dafür, dass solche Haltungen sich in der Gesellschaft ausbreiten.
Wie weit reicht die Gewissensfreiheit?
    Die Freiheit des Gewissens muss gelernt werden, damit es etwas gibt, was geschützt werden kann. Freilich bildet sich das Gewissen auch unter dem Zwang massiven Unrechts. Zumindest bei Einzelnen meldet es sich, wenn elementare Moralprinzipien verletzt werden. In solchen Situationen besteht die Gewissensfreiheit nicht nur darin, den eigenen Überzeugungen gemäß zu leben, sondern zu ihr gehört auch die Bereitschaft zur Resistenz. Deshalb fragen wir zum Schluss dieses Kapitels, wie weit die Gewissensfreiheit reicht.
    Der Schutz dieser Freiheit ist in der deutschen Verfassungsordnung ausdrücklich anerkannt. Damit wird einer ethischen Kategorie grundlegende Bedeutung für das Verfassungsrecht zugesprochen. Im Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wird die «Freiheit des Gewissens» zusammen mit der «Freiheit des Glaubens» und der «Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses» für «unverletzlich» erklärt. Sie gehören zu den Grundrechten, die insgesamt mit einer «Ewigkeitsgarantie» ausgestattet sind; im Unterschied zu anderen Grundrechten gibt es im Artikel 3 des Grundgesetzes keinen Gesetzesvorbehalt. Die im christlichen Glauben verankerte Hochschätzung der Gewissensfreiheit wird im weltlichen Bereich zur Geltung gebracht. DieZusammengehörigkeit von Glaubens- und Gewissensfreiheit wird beachtet, aber die Gewissensfreiheit wird zugleich in ihrer Eigenständigkeit anerkannt (Bethge 2009: 671). Einen eigenständigen Gehalt im Verhältnis zu anderen Grundrechten entfaltet die Gewissensfreiheit am ehesten, wenn es um den Schutz einer konkreten Gewissensentscheidung geht. Eine Gewissensentscheidung ist dadurch geprägt, dass sie die Person eines Menschen insgesamt betrifft. Mit ihr steht deshalb die Identität des Menschen auf dem Spiel.
    Vor einer Gewissensentscheidung stehen wir aber nicht nur dann, wenn ein Prinzip übermächtig nach Beachtung verlangt. Vielmehr können widerstreitende Prinzipien miteinander in Konflikt geraten und ein Dilemma hervorrufen, das eine

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