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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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der die Rechenschaftspflicht des Menschen für sein Leben verankert ist. Eine letzte Rechenschaft des Menschen ist aber nur schwer allein sich selbst gegenüber denkbar. Auf die eine oder andere Weise ist dafür vielmehr eine dem Menschen gegenüberstehende und zugleich unbedingte Autorität vorausgesetzt. Im Gewissen meldet sich die menschliche Verantwortung vor Gott; es wird als «subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung» gedacht (Kant 1797/1798: A101f.).
    Von «größtem geistesgeschichtlichem Einfluss» ist die Aufnahme des Gewissensbegriffs durch den Apostel Paulus (Reiner 1974: 579). Er geht davon aus, dass jeder Mensch einen Sinn für die sittliche Bedeutung seines Handelns hat; auch den Heiden ist der Inhalt des göttlichen Gebots «ins Herz geschrieben» (Römer 2,14f.). Diese Äußerung wurde zu einem der wichtigsten Bezugspunkte für die Vorstellung, dass dem Gewissen ein naturrechtlicher Inhalt eignet, ein Inhalt also, der dem Menschen kraft seiner Natur mitgegeben ist. Das führt in der späteren Entwicklung des Begriffs zur Vorstellung eines «moralischen Urwissens», das durch die menschliche Sünde nicht zerstört ist; dieses Urwissen wird von dem konkreten, auf den Einzelfall bezogenen Gewissensurteil unterschieden (Reuter, Gewissen 2012: 292). Das praktische Gewissensurteil ist irrtumsanfällig. Sein Verhältnis zu allgemein verbindlichen Maßstäben muss immer wieder neu ausbalanciert werden. Das individuelle Gewissen verdient zwar auch dann Respekt und Schutz, wenn andere es als fehlgeleitet betrachten, doch zur Bindung an das Urteil des eigenen Gewissens gehört die Bereitschaft zur kritischen Selbstprüfung.
    Paulus, auf den der entscheidende Anstoß zur Verankerung der Gewissensthematik im christlichen Denken zurückgeht, thematisiert bereits Situationen, in denen die Beteiligten aus Gewissensgründen zu einander widerstreitenden Entscheidungen kommen. Bei der Frage, ob Christen Fleisch essen dürfen, zu dem sie durch den heidnischen Opferkult Zugang haben, sollen die «Starken», die meinen, dem Reinen sei alles rein, auf die «Schwachen» Rücksicht nehmen, die darin eine indirekte Beteiligung an der Verehrung heidnischer Gottheiten sehen (1. Korinther 8). Auch wenn man in einem solchen Konflikt das Gewissen des Andern als «schwach» oder gar irrend beurteilt, hat man dessen Gewissensbindung ernst zu nehmen und nach einer gewissensschonenden Lösung zu suchen. Paulus orientiert sich dabei an dem Leitgedanken des befreiten und dadurch zur Liebe befähigten Gewissens: «Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.» (1. Korinther 10,23f.)
    Die Vorstellung von einem befreiten Gewissen wurde allerdings in der späterer Entwicklung nicht durchweg beibehalten. Vielmehr trat ein autoritärer Typus des Gewissens auf, der an der Befolgung kirchlicher Vorschriften orientiert war; der Gehorsam gegenüber Gott wurde mitdem Gehorsam gegenüber den kirchlichen Autoritäten gleichgesetzt. Man hat diesen Typus des Gewissens als «folgsames Gewissen» bezeichnet (vgl. Reiner 1974: 580; Kittsteiner 1995: 22). Die Gewissenskritik späterer Jahrhunderte orientiert sich weithin an diesem Gewissenstypus; auch noch Friedrich Nietzsches Kritik an dem schlechten Gewissen, in dem sich ein menschlicher Grausamkeitsinstinkt gegen sich selbst wendet, oder Sigmund Freuds Kritik am Gewissen als internalisiertem Über-Ich ist durch dieses Muster der Autoritätskritik geprägt.
    Davon unterscheidet sich eine Linie in der Entwicklung des Gewissensverständnisses, in der das «Mitwissen mit sich selbst» im Sinne des aus eigenen Gründen als richtig Erkannten verstanden wird. Der Gedanke einer letzten Rechenschaftspflicht vor Gott unterstreicht den Verpflichtungscharakter und hebt die Freiheit nicht auf, in der das erkannt wird, was den Einzelnen im Gewissen bindet. Solche Erkenntnis setzt Freiheit von der Schuld voraus. Für Martin Luther ist die Bitte um Vergebung der Schuld deshalb für das Verständnis des Gewissens von entscheidender Bedeutung. In dieser Bitte holt sich das von Unfrieden geplagte Gewissen Trost; es wird «wieder aufgerichtet». Aus einem geknechteten wird ein freies und fröhliches Gewissen (Luther 1529: 106f.). Der Begriff des «befreiten Gewissens» wird in diesem Zusammenhang von Luther neu erschlossen. Man kann den Gewissenstypus, der sich aus diesen

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