Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Fragen der persönlichen Lebensführung für die Ausübung eines politischen Amts jedenfalls so lange ohne Bedeutung sind, wie es sich nicht um rechtlich inkriminierte Tatbestände handelt. Andere vertreten die Überzeugung, politische Amtsträger könnten ihre Vorbildfunktion nicht ignorieren. Diese kann sich nicht nur in fehlerfreiem Handeln, sondern auch im Umgang mit Fehlern zeigen. Nicht moralisch problematisches Handeln an sich, sondern der Umgang mit dem eigenen Versagen führt bisweilen zum Ende einer politischen Karriere.
In den öffentlichen Debatten über das Verhalten von Politikern ist viel Selbstgerechtigkeit im Spiel. Medien, die bestimmte Arten des Fehlverhaltens bei einzelnen Personen durch eigene Recherchen aufdecken, halten sich in ihrer publizistischen Praxis unter Umständen keineswegs an die hehren moralischen Maßstäbe, die sie an Politiker anlegen. Wer sich öffentlich zur moralischen Vertrauenswürdigkeit von Politikerinnen und Politikern äußert, sollte den dabei angewandten Kriterien auch selbst genügen.
Wiederkehr der Tugenden
In der Debatte über die Moral in der Politik zeigt sich nicht nur ein Interesse an der Veröffentlichung von Skandalgeschichten, mit denen sich die Auflage oder die Einschaltquote steigern lässt, und auch nicht nur eine enttäuschte Sehnsucht nach Vorbildern. Vielmehr hat diese Debatte Anteil an einer Gesprächslage, die durch ein neues Interesse an Tugenden geprägt ist (vgl. Bahr 2010).
In einer überraschenden Wende hat die jüngere ethische Diskussion das Nachdenken über Tugenden wieder belebt. Man kann darin eine Öffnung der modernen Ethik für Ansätze sehen, die in die Antike zurückreichen. Aristoteles hat den Begriff der Tugend maßgeblich geprägt. Er sieht in ihr eine Haltung, in der die Mitte zwischen den Extremen von Übermaß und Mangel gewahrt wird. Sie ist aber zugleich dadurch bestimmt, dass sie gegenüber anderen Haltungen als richtig einleuchtet und diesen gegenüber vorzugswürdig ist. Dass die Tugend die Mitte zwischen den Extremen hält, darf also nicht mit Mittelmaß verwechselt werden; vielmehr zeichnet die Tugend sich zugleich durch Vorzüglichkeit und Richtigkeit aus (Aristoteles II 1106b. f.; Höffe 2012: 96). Aristoteles sieht in ihr eine feste Grundhaltung, die, wie Hegel erläutert, in einer «Stetigkeit des Charakters» Ausdruck findet (Hegel 1976: 300). Diese Haltung muss erworben und eingeübt werden.
In der Konzeption des Aristoteles dienen die Tugenden dem Gelingen des Lebens, also dem Glück
(eudaimonia)
. Diesem Ziel werden sowohl die Verstandeskräfte des Menschen als auch seine nichtrationalen Strebungen untergeordnet. Daher lassen sich Verstandestugenden und nichtrationale Tugenden, mit deren Hilfe Emotionen und Begierden beherrscht werden, voneinander unterscheiden. Obwohl sich daraus eine Vielzahl von Tugenden ableiten lässt, hat sich in der abendländischen Tradition ein einfaches, auf Platon zurückgehendes Tugendschema durchgesetzt (vgl. Pieper 1998). Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß gelten als die vier grundlegenden Tugenden, die deshalb auch Kardinaltugenden genannt werden. Sie wurden in der christlichen Lehre aufgenommen, und ihnen wurden die drei theologischen Tugenden zur Seite gestellt, die Paulus am Ende seines «Hohen Lieds der Liebe» nennt, nämlich Glaube, Liebe und Hoffnung (1. Korinther 13,13). Die scholastischeTheologie hat sich weithin an der Siebenzahl der Tugenden orientiert, die sich aus der Zusammenfügung von Kardinaltugenden und theologischen Tugenden ergab. An Aristoteles anknüpfend, versteht sie Tugendhaftigkeit als eine Haltung, die zum sittlichen Handeln befähigt. Die Tugendethik betrachtet dieses Handeln wesentlich als ein Können, das im Erlernen der Tugenden seine entscheidende Voraussetzung hat.
Die anthropologische Wende seit Renaissance und Reformation sowie der Übergang zum neuzeitlichen Wissenschaftsideal haben die Orientierung an vorgegebenen Tugenden in den Hintergrund gedrängt. Die Ethik orientierte sich nun stärker an Aufgaben, die selbstbestimmt wahrgenommen werden. Sittliches Handeln wird nicht mehr als ein durch Tugenden ermöglichtes Können, sondern als ein durch Pflichten oder Ziele bestimmtes Sollen verstanden. Im Blick auf dieses Sollen bewegte sich die neuzeitliche philosophische Ethik lange Zeit zwischen den Polen eines deontologischen und eines utilitaristischen Ansatzes. Die deontologische Ethik fragte nach den Pflichten, die für den Einzelnen
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