Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Wahrheit zu sagen. Wo das Zutrauen zur wechselseitigen Wahrheitsfähigkeit zerbricht, steht das «Apriori der Kommunikationsgemeinschaft» auf dem Spiel (Apel 1973: 358ff.). Ohne die wechselseitige Erwartung an die Wahrheitsfähigkeit von Dialogpartnern gibt es keine menschliche Kommunikation. Da menschliche Gemeinschaften durch Sprache konstituiert werden, gibt es ohne diese Voraussetzung auch keine menschliche Gemeinschaft. Sogar reine Zweckgemeinschaften sind auf das wechselseitige Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der Beteiligten angewiesen.
Wahrhaftigkeit gehört deshalb zu den elementaren moralischen Pflichten (vgl. Schockenhoff 2000: 172ff.). Aus der Pflicht, dass das, was wir sagen, wahr ist, ergibt sich jedoch keine Pflicht dazu, alles zu sagen, was wahr ist. Vielmehr ist auch das Einhalten von Vertraulichkeitsregeln und Verschwiegenheitspflichten moralisch verbindlich. Das Drängendarauf, dass der Gesprächspartner die Verschwiegenheitspflicht bricht und über etwas Auskunft gibt, was ihm vertraulich mitgeteilt wurde, ist in sich selbst moralisch fragwürdig. Freilich darf die Verschwiegenheitspflicht nicht benutzt werden, um Rechtsverstöße zu decken oder deren Aufklärung zu behindern. Nur bestimmte Professionen – insbesondere Seelsorger, Ärzte und Rechtsanwälte – haben ein Zeugnisverweigerungsrecht über Sachverhalte, die ihnen in Ausübung ihres Berufs bekannt geworden sind.
Zur Wahrheitsorientierung der Wissenschaft gehört die Transparenz im Blick auf die Quellen der eigenen Wahrheitserkenntnis; nur dann lässt sich auch ermessen, welche Einsichten ein Wissenschaftler selbst erarbeitet und welche er von anderen übernommen hat. Bei der Diskussion über das Verhalten von Karl-Theodor zu Guttenberg ging es indessen nicht nur um diese wissenschaftsethische Pflicht. Vielmehr verband sich damit die Frage nach den ethischen Erwartungen, die an die Inhaber öffentlicher Ämter zu richten sind.
Gibt es eine besondere Wahrheitspflicht in der Politik? Das landläufige Urteil unterstellt der Politik eher eine Bereitschaft, Sachverhalte so darzustellen, wie sie in das eigene Konzept passen, und ein Bemühen darum, sich selbst in einem besonders guten und den Gegner in einem fragwürdigen Licht erscheinen zu lassen. «Die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik.» (Arendt 1987: 8) Die politische Lüge gilt deshalb als der Prototyp der Lüge überhaupt (Erlinger 2012: 14f.). Die drei großen Fernsehduelle der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2008, John McCain und Barack Obama, wurden von den Medien daraufhin untersucht, wie viele unzutreffende Aussagen von den Kandidaten innerhalb der Sendungen von jeweils neunzig Minuten gemacht worden waren. Die Quote war beträchtlich, insbesondere dann, wenn die Kandidaten scheinbar präzise Aussagen über die Höhe oder den prozentualen Anteil von öffentlichen Ausgaben machten. Die Öffentlichkeit unterstellte dabei in der Regel bewusste Lüge; im einen oder anderen Fall könnte es sich aber auch um einen Irrtum handeln.
Neben der vorsätzlichen Lüge und dem unbewussten oder fahrlässigen Irrtum ist schließlich die politische Fehleinschätzung zu erwähnen. Politik ist Zukunftsgestaltung, und da zukünftige Entwicklungen immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werdenkönnen, sind politische Aussagen immer mit Unsicherheiten verbunden. Unzutreffende Einschätzungen künftiger Entwicklungen oder falsche Urteile über die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen führen dazu, dass Ankündigungen oder Versprechen nicht erfüllt werden; auch dies wird häufig unter der Kategorie der politischen Lüge verbucht.
Was bei Politikern als Verstoß gegen die Wahrheitspflicht angesehen wird, ist also komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Umso mehr wird persönliche Wahrhaftigkeit zu einem entscheidenden Maßstab für deren Beurteilung; dass ihnen ein Mangel an Wahrhaftigkeit unterstellt wird, ist eine entscheidende Ursache für Politikverdrossenheit. In besonderen Konstellationen kann der Mangel an Wahrhaftigkeit zum Verlust eines politischen Amtes oder sogar zum Ende der politischen Karriere führen.
Ist Moral Privatsache?
Die ethischen Erwartungen an politische Verantwortungsträger sind in der politischen Kultur einzelner Länder unterschiedlich ausgeprägt. Welche moralischen Anforderungen an Politiker gestellt werden sollen, ist aber auch grundsätzlich umstritten. Die einen sind der Auffassung, dass
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