Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
verbindlich sind. Kant entwickelte dafür die Prüfregel, mit der nach der Verallgemeinerungsfähigkeit dessen gefragt wurde, was der Einzelne für sich als verpflichtend anerkennen wollte: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» (Kant 1785/1786: BA52) Die utilitaristische Ethik fragte nach denjenigen Verhaltensweisen, die das Wohlbefinden fördern; man kann sie insofern als Variante einer Güterethik betrachten. Der Blick auf die Allgemeinheit wurde in diesem Fall dadurch eröffnet, dass nach «dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl» Ausschau gehalten wurde (Bentham 1776: 3 im Anschluss an Francis Hutcheson). Während der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Tugendlehre noch in ein Konzept einfügte, das die Ethik in Güter-, Pflichten- und Tugendethik gliederte, betrachtete Friedrich Nietzsche gegen Ende desselben Jahrhunderts das Beharren auf Tugenden als Ausdruck von Schwäche und Mittelmäßigkeit. Diese Betrachtungsweise blieb für die Ethik im 20. Jahrhundert weithin bestimmend.
Umso überraschender ist die insbesondere mit dem Namen von Alasdair Maclntyre verbundene Wende zu einer Tugendethik, die wieder danach fragt, wie moralisches Handeln praktisch möglich wird (vgl. Maclntyre 1987). Lebensgemeinschaften treten wieder in den Blick, indenen sittliche Haltungen erlernt und eingeübt werden; die Rolle von Vorbildern wird rehabilitiert, und Charakterbildung wird wieder zu einem positiv besetzten Begriff. Christliche Kirchen werden als «Charaktergemeinschaften» in dem doppelten Sinn bezeichnet, dass sie Erzählungen tradieren, an denen sich der Charakter bilden kann, und dass sie selbst durch eine besondere Lebenshaltung (einen «Charakter») geprägt sind, die sie von ihrer gesellschaftlichen Umwelt unterscheidet (vgl. Hauerwas 1986). Die christliche Kirche wird dabei häufig als eine Kontrastgemeinschaft verstanden, die mit ihrer besonderen ethischen Prägung der Gesellschaft im Ganzen gegenübersteht.
Doch alle ethischen Konzepte, die durch ein solches Kontrastmotiv geprägt sind, laufen Gefahr, die Allgemeingültigkeit der Moral preiszugeben. Die Tugenden, für die sie eintreten, gelten nur für den jeweiligen Binnenbereich. Das in dieser Gemeinschaft gelebte Ethos hebt sich von der dunklen Folie gesellschaftlicher Normalität ab; daraus speist sich das radikale Pathos solcher ethischen Entwürfe. Eine derartige Ethik konzentriert sich ganz und gar auf die Frage nach dem Guten, das für eine besondere Lebensform bestimmend ist. Die Frage nach dem Richtigen, das für alle in gleicher Weise gilt, tritt dagegen zurück. Wenn dennoch das für die eigene Lebensform Gute als Forderung an die ganze Gesellschaft gerichtet wird, fehlt es dafür häufig an einer schlüssigen Begründung.
So weit diese neue Tugendethik sich auch konfrontativ von einer Regelethik abwendet, wirkt sie doch weithin restaurativ. Die Tugenden gelten als plausibel, weil sie sich einer achtenswerten Tradition verdanken; ihre Verbindlichkeit braucht nicht am Maßstab der Allgemeingültigkeit ausgewiesen zu werden. Von einem solchen Ausgangspunkt aus ist es schwer, einen angemessenen Zugang zu neuen ethischen Herausforderungen zu finden. Ein tugendethischer Ansatz reicht deshalb allein als ethische Orientierung nicht aus, er enthält aber ein unaufgebbares Wahrheitsmoment. Ethik hat es nicht nur mit dem richtigen Handeln und den dafür gültigen Regeln zu tun, sondern muss die Fähigkeit des Menschen in den Blick nehmen, sich von den Herausforderungen zum Handeln motivieren zu lassen und ihnen gegenüber eine ethisch angemessene Haltung zu entwickeln. Für die Ethik ist das Wahrnehmen ebenso wichtig wie das Handeln. Ethik kann deshalb von den Emotionen des Menschen und von deren Steuerung durch die Bildung des Charakters nicht absehen (vgl. Fischer 2012: 41ff.). Als erstaunlich weitsichtig erweist sichsomit Schleiermachers Idee, Pflichten, Tugenden und Güter in der Ethik aufeinander zu beziehen, statt die ethischen Konzepte, die sich an ihnen orientieren, gegeneinander auszuspielen (Schleiermacher 1967: 128ff.). So liegt es nahe, tugendethische und deontologische Gesichtspunkte in der Ethik miteinander zu verbinden (vgl. Schockenhoff 2007: 43ff., 303ff.).
Politische Ethik als Professionsethik
Die neue Zuwendung zu den Tugenden in der ethischen Debatte hat sich auch auf die Diskussion über die
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