Ethik: Grundwissen Philosophie
gehört.
Ausgangspunkt der bisherigen Überlegungen ist der freie Wille des Betroffenen. Oft aber ist dieser nicht zu ermitteln, weil der Betroffene beispielsweise komatös ist. Was ist in solchen Fällen zu tun?
Ein Schulfreund von mir liegt seit neun Jahren im Wachkoma, ohne Hoffnung auf Besserung. Er ist im Hallenbad ertrunken und wurde reanimiert. Er liegt zu Hause und wird in einem Spezialbett aufopferungsvoll von seiner Frau gepflegt. Vor Kurzem diagnostizierten die Ärzte eine Krebserkrankung bei ihm. Ob die Schmerztherapie anschlagen würde, sei höchst ungewiss, bekam seine Frau zu hören. Sie stellte sich die Frage, ob unter diesen Umständen die [89] lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen eingestellt werden sollen. Der Wille des Betroffenen ist hier nicht zu erfragen; auch haben sich seine Frau und er vorher nie über diesen möglicherweise eintretenden Fall unterhalten.
Was genau bedeutet »Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen«? Der BGH hat unter Bezugnahme auf die Empfehlung der Bundesärztekammer zwei Möglichkeiten genannt: 1. nur die Einstellung der medizinischen Versorgung, 2. die Einstellung der medizinischen Versorgung und der nichtmedizinischen Basisversorgung (Nahrungs-, Flüssigkeits-, Luftzufuhr und Bluttransfusionen). Der BGH hat davon gesprochen, dass die Einstellung beider Versorgungsformen erlaubt sei, wenn der Patient das unmissverständlich verlange. »Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Kranken.« (BGH 1 StR 357/94 – Urteil vom 13. September 1994) Nun muss die Frage beantwortet werden, wie der mutmaßliche Wille ermittelt werden kann. Im zweiten Leitsatz werden vom Gericht folgende Möglichkeiten angeboten: »frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiöse Überzeugung, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen«.
Da mein Schulfreund mit seiner Frau nicht über eine solche Situation gesprochen hat, sind die anderen vom BGH genannten Indizien heranzuziehen, aus denen sich der mutmaßliche Wille mit hoher Wahrscheinlichkeit ermitteln lässt. So zum Beispiel die religiöse Orientierung. Mein Schulfreund ist streng katholisch, und seine Frau ist sich sicher, dass er der Auffassung gewesen ist, nur Gott könne das Ende des Lebens bestimmen. Sie würde in einer vergleichbaren Situation für sich selbst wollen, dass in derselben Weise entschieden würde, und sie seien sich über ihre Wertvorstellungen stets einig gewesen. Insofern kann man mit recht großer Sicherheit annehmen, dass der mutmaßliche Wille des Betroffenen dahin geht, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen nicht eingestellt werden sollen, weil seine religiöse [90] Überzeugung und sonstigen persönlichen Wertvorstellungen dies verbieten würden.
Die Frau und die Kinder sowie die behandelnden Ärzte müssen nun also Entscheidungen treffen, was sie in der jetzigen Situation tun sollen. Sie haben, da der Patient nicht selbst entscheiden kann, eine Garantenpflicht. Es empfiehlt sich, Schritt für Schritt nach dem bereits vorgestellten Vierstufenschema für moralische Dilemmasituationen vorzugehen. Welche moralischen Pflichten stehen auf dem Spiel, denen man nachkommen muss? Da ist zum einen der Schutz des menschlichen Lebens. Zum anderen die Pflicht, andere vor Schmerzen zu bewahren. Dies festzustellen war der erste Schritt gemäß dem Vierstufenschema. Den zweiten Schritt tat die Frau meines Schulfreundes, indem sie alle ihr möglichen Informationen einholte. Mehrere Ärzte wurden konsultiert. Nach der sich nun für sie ergebenden Sachlage musste sie sich fragen, ob sie ihren Mann vor den möglicherweise unerträglichen Schmerzen bewahren oder sein Leben schützen sollte. Sie kann einer dieser moralischen Pflichten nur dadurch nachkommen, dass sie die andere verletzt. Im dritten Schritt kamen ihre Präferenzen ins Spiel. Für sie war völlig klar, so wie es das für ihren Mann ebenfalls gewesen wäre, dass der Schutz des menschlichen Lebens unbedingten Vorrang hat. Der vierte Schritt bestand in der Frage, ob sie mit ihrer Entscheidung, die lebenserhaltenden Maßnahmen nicht einzustellen, leben kann, ob sie sich am nächsten Morgen noch im Spiegel ansehen kann, ohne rot zu werden. Sie wurde in der Folgezeit immer noch von starken Zweifeln geplagt, doch sagte sie, dass sie mit dieser Entscheidung besser leben könne als mit der anderen.
Hier ist nun festzuhalten, dass man moralische Entscheidungen
Weitere Kostenlose Bücher