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Etwas Endet, Etwas Beginnt

Etwas Endet, Etwas Beginnt

Titel: Etwas Endet, Etwas Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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natürlich genau das Gegenteil.
    Gerade jetzt, da sie früh um fünf vor dem fleckigen Spiegel im von Lichtstreifen durchzogenen Halbdunkel des Bungalows stand, empfand Monika stärker als jemals zuvor, wie unansehnlich sie war. Sie bedauerte, dass sie in diesen Ferienort gefahren war, in diese Belegung in der Einöde ohne Komfort, wo es angeblich romantisch sein sollte, aber in Wahrheit nur unbequem war. Reisebüro »Rommar Tour«, erinnerte sie sich. »Du bist einsam? Teile uns dein Alter mit, Beruf, Bildung, Interessen. Schreib auf, wovon du träumst, und wir organisieren dir den Urlaub deiner Träume.«
    Der Urlaub meiner Träume   …
    Sie war gefahren, weil sie allein war und den Sommer nicht allein in der Stadt verbringen wollte. »Rommar Tour« hatte eigentlich weder gelogen noch übertrieben, obwohl sie in ihrem Fragebogen dem Punkt »Bildung« sichtlich zu viel Bedeutung bei der Auswahl beimaßen. Ringsum wimmelte es von schmachtenden Doktorandinnen und geschiedenen Dozenten.
    Der Urlaub meiner Träume   …
    Mit der Reise hatte sich Monika abermals zu beweisenversucht, dass sie Gesellschaft liebe. Der Versuch war wie viele zuvor misslungen. Zum wiederholten Male hatte sich Monika nichts bewiesen, als dass sie die Einsamkeit hasste.
    Und sie war allein. Immer noch allein. Ihre zufällige Mitbewohnerin, Elka, die aus unerfindlichen Gründen das Schneehuhn genannt wurde und die ihr in den ersten Tagen des Aufenthalts mit Geplapper, Sorglosigkeit und Schlamperei auf die Nerven gefallen war, pflegte neuerdings abends zu verschwinden und spät in der Nacht wiederzukommen. Und manchmal   – wie heute   – erst am Morgen. Monika hatte keinen Zweifel, was das Schneehuhn im Fragebogen von »Rommar Tours« wohl in der Rubrik »Interessen« eingetragen hatte.
    Anfangs war Monika entsetzt gewesen   – sie fürchtete, das Schneehuhn gehöre zu den Mädchen, die einen ausführlichen und anschaulichen Bericht für eine Art Endspiel hielten, für den natürlichen und notwendigen Abschluss der nächtlichen Abenteuer. Das hätte Monika gewiss nicht ertragen. Zum Glück neigte Elka nicht zum Erzählen. Ganz im Gegenteil, sie war diskret. Das hinderte sie allerdings nicht, spontan Zufriedenheit und Überlegenheit zu demonstrieren, mit denen ein auserwähltes Weibchen einem verschmähten begegnen muss.
    Monika Szreder fühlte sich nicht verschmäht. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte schon zwei ernste erotische Experimente hinter sich. Wesen und Verlauf beider weckten keine Sehnsucht nach einem dritten.
    Und dennoch   …
    »Ich bin unansehnlich«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Ohne in Tränen auszubrechen. Dazu war sie zu stolz. Es gibt nichts Schlimmeres, als den Tag mit Weinen zu beginnen, dachte sie.
    Den Tag? Das ist schwerlich schon Tag zu nennen,dachte sie. Das Feriendorf schläft noch und wartet, dass die Sonne endlich den Tau trocknet, die Luft erwärmt, die mit ihrer Kälte noch immer die Haut beißt.
    Sie legte sich hin, stellte das Kopfkissen hoch, griff nach dem Buch. Sie versuchte, die Stelle zu finden, wo sie am Abend die Lektüre unterbrochen hatte, schläfrig und vom Warten auf Elka ungeduldig. Stattdessen kehrte sie zum Anfang zurück, zu der Stelle, die mit einem kleinen, getrockneten Stiefmütterchen markiert war. Nur ein paar Strophen, dachte sie. Nur ein paar.
     
    Under der linden
    an der heide
    dâ unser zweier bette was,
    Dâ muget ir vinden
    schône beide
    gebrochen bluomen unde gras.
    Vor dem walde in einem tal,
    tandaradei,
    schône sanc diu nahtegal.
     
    »Tandaradei«, flüsterte sie gedankenverloren und ließ das Buch sinken. Sie schloss die Augen.
    »Tandaradei«, sagte der Minnesänger.
    Er war sehr schmächtig, geradezu mager, der Mantel, der seine Gestalt eng umhüllte und an dem der Wind zerrte, unterstrich diese Magerkeit noch. Sein Schatten, dünn, gerade wie ein schwarzer Strich, legte sich auf den Wandteppich, auf dem sich ein weißes Einhorn aufbäumte, die Vorderbeine zu einer heraldischen Pose erhoben.
    »Tandaradei«, wiederholte der Minnesänger. »Dieses Lied   …«
    So viele Erinnerungen. So viele schöne Erinnerungen.
Under der linden, an der heide   …
Du   … Ja, du bist das. Die Aschblonde   …
    Monika bewegte die Hände, strich die Blumen beiseite, die Tausenden von Blumen, zwischen denen sie lag. Die meisten waren Rosen, groß, nass, entwickelt, dass Blättchen herabfielen.
    »Wie damals«, fuhr der Minnesänger leise fort, und seine Augen waren

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