Etwas Endet, Etwas Beginnt
mich an. Ich lachte laut los. Verdammt, es war schon fast ein Jahr her, aber diese komische Geschichte belustigte mich noch immer. Und Truthahn machte sie immer noch wütend.
Die Sache war nämlich so: Vor ungefähr zwei Jahren wurde es Mode, seine – wie das hieß – Wurzeln zu suchen. Eine Menge Einwohner von Suwałki und Umgebung, darunter Truthahns Familie, begann sich plötzlich als Litauer zu fühlen, weil irgendwelche fernen Vorfahren zusammen mit Swidrigaila gegen Ragnit und Neu-Kowno gezogen waren und zusammen mit Kenstut die Memel überquert hatten, um den Deutschen Orden anzugreifen. In Eingaben an die Vereinigung der Patrioten des Linksufers Litauens und Schmudiens wiederholten sich Liebeserklärungen an die Ufer des Flüsschens Wilija, halb von allerlei Getreide gesprenkelt, an den flammenden Rotklee und an die Mutter Gottes vom Tor der Morgenröte, dazu nicht weniger rührende Anfragen, ob die Große Baublis noch immer dort stehe, wo sie hingehöre, 5 denn davon mache die ganze Familie ihr weiteres Glück abhängig. Der Grund für das Erwachen des Patriotismus war prosaisch – die Litauer hatten im Sinne der Bestimmungen für nationale Minderheiten eine Menge Privilegien und Vergünstigungen, darunter steuerliche, und unterstanden nicht der Kurie.
Sehr viele von meinen Mitschülern wurden plötzlich Litauer – infolge, versteht sich, entsprechender Erklärungen und Angaben ihrer Eltern. Fast tagtäglich verlangte ein Wochowicz, dass die Lehrer ihn Vochavicius nannten, aus einem Maklakowski wurde ein bodenständiger Maklakauskas und aus einem Złotkowski ein hundertprozentiger Goldbergis.
Und da begann die große Tragödie der Truthahn-Familie. Der sympathische und schmackhafte Vogel, dem die Familie ihren Namen Indyk verdankt, heißt auf Litauisch Kalakutas. Das Familienoberhaupt der Indyks, der für gewöhnlich phlegmatische und gesetzte Herr Adam, verfiel in Raserei, als man ihm mitteilte, dass seine Eingabe betreffs der litauischen Nationalität durchaus positiv entschieden werde, er sich aber fortan Adomas Kalakutas zu nennen habe. 6
Herr Adam legte Berufung ein, aber die Vereinigung der Patrioten des Linksufers Litauens und Schmudiens war unerbittlich und ließ sich nicht auf irgendwelche polnisch gefärbten Abwandlungen wie Indykas, Indykis oder Indykiškis ein. Den Plan, demzufolge Herr Adam zunächst die amerikanische Staatsbürgerschaft als »Turkey« erwerben und erst danach als Terkulis in den Schoß des Vaterlandes zurückkehren sollte, betrachtete die Familie der Indyks als idiotische, teure Zeitverschwendung.Auf den Vorwurf aber, Herrn Adams Einwände röchen nach polnischem Chauvinismus, denn besagter »kutas« sei für einen Litauer weder komisch noch ehrenrührig, beschimpfte Herr Adam die Kommission gelehrt und sprachgewandt, indem er abwechselnd die Wendungen »Leckt mich am Arsch« und »Papuciok sikini« benutzte. Die tödlich beleidigte Kommission schickte die Dokumente ins Archiv und Herrn Truthahn zum Teufel.
So also wurde niemand aus der Familie zum Litauer. Daher ging mein Kumpel Lesio Indyk auch in dieselbe Schule und Klasse wie ich und nicht aufs Gymnasium in Puńsk. Und deshalb saß er jetzt mit mir im Bombentrichter, statt in einer kackbraunen Uniform durch den Park zu laufen, in den Händen eine Kalaschnikow, ein litauisches Wappen an der Mütze und den Bären der Division »Plechavicius« am linken Ärmel.
»Jarek?«, ließ sich Truthahn vernehmen, in die Reste des Telefonverteilers verkrochen.
»Hm?«
»Wie ist das, sag doch … Du bist doch so ein Superduper, clever und überhaupt … Wie ist das?«
Das Geschützfeuer wurde stärker, an verschiedenen Stellen des Parks krachten Explosionen, und auf unsere Köpfe flog Sand.
»Wie was ist?«, fragte ich.
»Hier ist Polen, oder? Wieso veranstalten dann das Freikorps und die Litauer hier einen Krieg? Mitten in der Stadt? Sollen sie sich doch, die Scheißkerle, bei sich in Königsberg fetzen … Hier ist Polen!«
Ich war mir nicht sicher, ob Truthahn recht hatte.
Denn seht ihr, das war so. Kurz nach Unterzeichnung des Vertrags mit der Bundesrepublik über die Errichtung eines neuen Bundeslandes mit Allenstein als Hauptstadt kam es zu einer Volksabstimmung unter der Bevölkerungder Gemeinden Gołdap, Dubeniki, Wiżajny, Giby, Puńsk und Sejny. 7 Die Ergebnisse des Plebiszits waren wie üblich sonderbar und besagten gar nichts, unter anderem, weil mindestens achtzig Prozent der
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