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Etwas Endet, Etwas Beginnt

Etwas Endet, Etwas Beginnt

Titel: Etwas Endet, Etwas Beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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weggeholt?«
    Der Hutmacher, sichtlich beunruhigt, blickte sich zum Wald um, aus dessen Tiefe schon Knistern und Knacken ertönten. Ich als Kater hatte diese Geräusche längst gehört, noch ehe sie näher gekommen waren. Das waren nicht Les Cœurs, das war eine Schar von gabben Schweiseln, die im Gras etwas zu fressen suchten.
    Ich hatte nicht vor, den Schnapphasen zu beruhigen, der ebenfalls das Knacken hörte und schreckhaft die Ohren aufstellte. »Ja, ja, Archie, du solltest dich mit der Psychoanalyse beeilen, sonst bringt Mab sie für dich zu Ende.«
    »Vielleicht willst du sie zu Ende bringen?« Der Schnapphase wackelte mit den Barthaaren. »Du als höheresWesen kennst ja die Mechanismen der in der Psyche ablaufenden Prozesse aus dem Effeff. Zweifellos weißt du, wie es kommt, dass die sterbende Tochter des Dekans von Christ Church, statt in Frieden dahinzuscheiden, ohne aus der Lethargie zu erwachen, durch das
Land
irrt?«
    »Christ Church.« Ich zügelte meine Verwunderung. »Oxford. Welches Jahr?«
    »Achtzehnhundertzweiundsechzig«, warf Archie hin. »Die Nacht vom siebten zum achten Juli. Ist das wichtig?«
    »Nein. Fasse deine Schlussfolgerungen zusammen. Du hast das Resümee doch parat?«
    »Klar hab ich das.«
    »Ich brenne vor Neugier.«
    Der Hutmacher schenkte ein. Archie nahm einen kleinen Schluck, warf mir noch einen hochmütigen Blick zu, räusperte sich, rieb sich die Pfoten.
    »Wir haben es hier«, begann er feierlich und in erhabenem Ton, »mit dem typischen Fall eines Konflikts zwischen Id, Ego und Superego zu tun. Wie den verehrten Kollegen bekannt, ist in der menschlichen Psyche das Id das, was gefährlich ist, triebhaft, bedrohlich und unverständlich, das, was mit der nicht zu hemmenden Tendenz zur gedankenlosen Lustbefriedigung verbunden ist. Jenes gedankenlose Nachgeben gegenüber den Trieben versucht die betreffende Person   – wie wir es eben erst beobachten konnten   – unbeholfen mit imaginierten Anweisungen à la ›Trink mich‹ oder ›Iss mich‹ zu rechtfertigen, was den   – natürlich falschen   – Anschein erwecken soll, das Id habe dem rationalen Ego die Kontrolle übergeben. Das Ego der betreffenden Person nämlich ist das ihr eingeflößte viktorianische Prinzip der Realität, der Wirklichkeit, der Notwendigkeit, sich Geboten und Verbotenzu unterwerfen. Die Realität ist eine strenge häusliche Erziehung, die strenge, wenn auch scheinbar bunte Realität des ›Young Misses Magazine‹, der einzigen Lektüre für so ein Kind   …«
    »Das stimmt nicht!«, rief Alice Liddell laut. »Ich habe auch noch ›Robinson Crusoe‹ gelesen! Und Sir Walter Scott!«
    »Über das alles«   – der Hase kümmerte sich nicht um den Zwischenruf   – »versucht das unausgebildete Superego der besagten und   –
sit licentia verbo
– hier gegenwärtigen Person vergebens die Herrschaft zu gewinnen. Das Superego aber, selbst ein rudimentäres, verfügt unter anderem über die Fähigkeit zu phantasieren. Darum versucht es auch, die ablaufenden Prozesse in Visionen und Bilder umzusetzen.
Vivere cesse, imaginare necesse est,
wenn die verehrten Kollegen die Paraphrase erlauben wollen   …«
    »Die verehrten Kollegen«, sagte ich, »erlauben sich vielmehr die Anmerkung, dass die Schlussfolgerung, wiewohl im Prinzip theoretisch korrekt, nichts erklärt, also einen klassischen Fall von akademischem Geschwafel darstellt.«
    »Nichts für ungut, Archie«, sprang mir der Hutmacher unverhofft bei. »Aber Chester hat recht. Wir wissen noch immer nicht, auf welche Weise Alice hierhergeraten ist.«
    »Weil ihr Blödmänner seid!« Der Hase fuchtelte mit den Pfoten. »Ich sag es doch! Ihre von Erotismus überladene Phantasie hat sie hierhergebracht! Ihre Sehnsüchte! Die von irgendeinem Narkotikum geweckten geheimen Wunschträume   …«
    Er stockte, blickte auf etwas hinter meinem Rücken. Jetzt hörte auch ich das Geräusch von Flügeln. Ohne sein Gerede hätte ich es früher gehört.
    Auf dem Tisch, genau zwischen der Flasche und derTeekanne, landete Edgar. Edgar ist ein Rabe. Edgar fliegt viel und redet wenig. Darum dient er allen im
Land
meistens als Bote. Diesmal war es ebenso, denn Edgar hielt ein ansehnliches Kuvert im Schnabel, geschmückt mit einer Krone zwischen den Initialen »MR«.
    »Die verdammte Bande«, flüsterte der Hutmacher. »Die verdammte effekthascherische Bande.«
    »Ist das für mich?«, wunderte sich Alice. Edgar nickte mit Kopf, Schnabel und Brief.
    Sie nahm das

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