Eugénie Grandet (German Edition)
günstig war, und die Möglichkeit, es auszuführen. Wenn ich auch sozusagen geblendet war durch die überraschende Fruchtbarkeit Walter Scotts, der sich stets gleich und stets originell bleibt, so verzweifelte ich doch nicht, denn ich fand die Wurzel dieses Talentes in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Menschennatur. Der Zufall ist der größte Romandichter der Welt: um fruchtbar zu werden, braucht man nur zu studieren. Die französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär. Wenn ich die Inventur der Laster und Tugenden aufnahm, wenn ich die hauptsächlichsten Daten der Leidenschaften sammelte, wenn ich die Charaktere schilderte, wenn ich die wichtigsten Ereignisse des sozialen Lebens auswählte, wenn ich durch die Vereinigung der Züge vieler gleichartiger Charaktere Typen schuf, so konnte es mir vielleicht gelingen, die von so vielen Historikern übersehene Geschichte zu schreiben: die der Sitten. Mit viel Geduld und großem Mut konnte ich über das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts jenes Buch zustande bringen, nach dem wir alle uns sehnen, das uns Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien und Indien unglücklicherweise über ihre Zivilisationen nicht hinterlassen haben, und das nach dem Beispiel des Abbé Barthélemy der mutige und geduldige Monteil für das Mittelalter zu schreiben unternahm, jedoch in wenig anlockender Form.
Aber diese Arbeit war noch nichts. Der Schriftsteller, der sich an eine solche genaue Wiedergabe hielt, konnte ein mehr oder minder treuer, mehr oder minder glücklicher, geduldiger oder mutiger Schilderer der menschlichen Typen, ein Erzähler der Dramen des Alltagslebens, ein Archäolog des sozialen Apparates, ein Namengeber für die Berufe und ein Registrator des Guten und Bösen werden; um mir aber das Lob zu verdienen, nach dem jeder Künstler streben soll, mußte ich da nicht die Ursachen oder die Ursache für all diese sozialen Wirkungen studieren? Mußte ich nicht den verborgenen Sinn in dieser ungeheuren Häufung von Gestalten, Leidenschaften und Ereignissen erhaschen? Und wenn ich diese Ursache, diese treibende Kraft in der Gesellschaft, gesucht (ich sage nicht: gefunden) hatte, mußte ich da nicht über die natürlichen Prinzipien nachgrübeln und erforschen, worin sich die Gesellschaften von der ewigen Regel, vom Wahren und Schönen entfernen oder sich ihnen nähern? Trotz der Ausdehnung der Prämissen, die für sich allein schon ein Werk sein konnten, verlangte das Ganze, um ein Ganzes zu werden, einen Schluß. So geschildert, mußte die Gesellschaft den Sinn ihrer Bewegung in sich selber tragen.
Das Gesetz des Schriftstellers, das, was ihn zu einem solchen werden läßt, ja, ich scheue mich nicht zu sagen, was ihn dem Staatsmann gleich, wenn nicht gar überlegen macht, das ist eine irgendwie über alle menschlichen Dinge gefällte Entscheidung, eine absolute Hingabe an Prinzipien. Machiavelli, Hobbes, Bossuet, Leibniz, Kant, Montesquieu sind die Wissenschaft, die die Staatsmänner anwenden. »Ein Schriftsteller muß in der Moral und in der Politik feste Anschauungen haben, er muß sich als einen Erzieher der Menschen betrachten; denn um zu zweifeln, bedürfen die Menschen keiner Lehrer«, sagt Bonald. Ich habe mir diese großen Worte, die so gut das Gesetz des monarchischen Schriftstellers sind wie das des demokratischen, früh zur Richtschnur genommen. Und wenn man mich also mir selber entgegenhalten will, so wird es sich finden, daß man irgendeine Ironie falsch gedeutet hat, oder daß man die Worte einer meiner Gestalten unsinnigerweise wider mich wendet: ein Verfahren, das den Verleumdern geläufig ist. Was den verborgenen Sinn, die Seele dieses Werkes angeht, so mögen diese Prinzipien, die ihm als Grundlage dienen, hier folgen.
Der Mensch ist weder gut noch böse; er wird mit Instinkten und Anlagen geboren; die Gesellschaft verdirbt ihn keineswegs, wie Rousseau es behauptet hat, sie vervollkommnet ihn, sie macht ihn besser; aber das Interesse entwickelt auch seine schlimmen Neigungen. Das Christentum, und besonders der Katholizismus, ist als ein vollständiges System der Unterdrückung aller entarteten Neigungen des Menschen, und als solches habe ich ihn im »Landarzt« dargestellt, die größte Kraft der sozialen Ordnung.
Wenn man die Schilderung der Gesellschaft, die gewissermaßen nach dem lebenden Körper mit all seinen Vorzügen und Schwächen abgegossen wurde, aufmerksam durchliest, so ergibt sich diese Lehre, daß der Gedanke oder
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