Eugénie Grandet (German Edition)
nicht meine Absicht gewesen, im Zweifel über das Geschick meines Kindes von hinnen zu gehen; ich hatte gehofft, im warmen Druck Deiner Hand ein heiliges Versprechen zu empfangen, das mich beruhigt haben würde. Aber es fehlt mir an Zeit. Während Charles auf der Reise ist, bin ich gezwungen, meine Bilanz zu ziehen. Ich werde versuchen, durch die Gewissenhaftigkeit, mit der ich meine Geschäfte führte, zu beweisen, daß in meinem Unglück keine Schuld, keine Unredlichkeit zu finden ist. Heißt das nicht auch, mich um Charles' Wohl bekümmern?
Lebe wohl, mein Bruder! Möge die großmütige Vormundschaft, um die ich Dich bitte und die Du, wie ich nicht zweifle, übernehmen wirst, des Himmels reichsten Segen über Dich bringen. Und wisse: dort oben in jener Welt, in die wir alle eines Tages gehen müssen und in der ich nun schon bin, wird unausgesetzt eine Stimme für Dich beten.
Victor-Ange-Guillaume Grandet .
»Unterhalten Sie sich gut?« sagte Vater Grandet, den Brief sorgsam zusammenfaltend und in die Westentasche steckend.
Er betrachtete seinen Neffen mit demütiger und furchtsamer Miene, der Maske, hinter der er seine Bewegung und seine Erwägungen verbarg.
»Hat die Wärme Ihnen gut getan?«
»Sehr, lieber Onkel.«
»Nun, wo sind unsere Damen?« sagte der Onkel, der schon vergessen zu haben schien, daß sein Neffe bei ihm übernachtete.
In diesem Augenblick traten Eugénie und ihre Mutter wieder ein.
»Ist alles bereit?« fragte der Biedermann, nun wieder ganz bei der Sache.
»Ja, Vater.«
»Also, lieber Neffe, wenn Sie müde sind, wird Nanon Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Freilich, das ist kein modisches Appartement. Denn wir armen Weinbauern müssen mit jedem Sou rechnen. Die Steuern verschlingen alles.«
»Wir wollen nicht länger stören, Grandet«, sagte nun der Bankier; »Sie haben wohl mit Ihrem Neffen manches zu bereden. Wir wünschen einen guten Abend! Auf morgen!«
Nach diesen Worten erhob sich die Gesellschaft, und jeder verabschiedete sich auf seine Weise. Der alte Notar holte sich draußen aus dem Winkel bei der Tür seine Laterne, steckte sie an und erbot sich, die des Grassins heimzugeleiten. Madame des Grassins hatte das Ereignis, das diese Abendunterhaltung so unerwartet abkürzen sollte, nicht vorhergesehen, und so war ihr Diener noch nicht eingetroffen.
»Wollen Sie mir die Ehre erweisen, meinen Arm anzunehmen, Madame?« sagte der Abbé zu Madame des Grassins.
»Danke, Monsieur l'Abbé; ich habe meinen Sohn«, erwiderte sie trocken.
»Mein Arm ist doch sicherlich nicht kompromittierend für die Damen«, sagte der Abbe.
»Gib doch Monsieur Cruchot den Arm «, sagte ihr Gatte zu ihr.
Der Abbé durfte also die hübsche Frau führen, und er wußte es so einzurichten, daß sie den andern um einige Schritte voraus waren.
»Er ist prächtig, dieser junge Mann, Madame«, sagte er, ihren Arm drückend. »Adieu, Vogelscheuchen! Die Trauben sind geerntet! – Sie müssen auf Mademoiselle Grandet verzichten; Eugénie wird dem Pariser zufallen. Sollte dieser Cousin nicht zufällig schon in eine Pariserin verliebt sein, so dürfte Ihrem Sohn Adolphe in ihm ein Rivale ...«
»Schon gut, Monsieur l'Abbé. Der junge Mann wird sehr bald sehen, daß Eugenie ein Gänschen ist, ein langweiliges, blasses Kellerpflänzehen. Haben Sie sie betrachtet? Sie war heute abend gelb wie eine Quitte.«
»Sie haben vielleicht schon dafür gesorgt, daß auch der Cousin dies bemerkte?«
»Ich habe mich nicht gescheut ...«
»Halten Sie sich nur immer in Eugénies Nähe, Madame, und Sie werden dem jungen Mann nicht viel zu sagen brauchen, er wird selbst einen Vergleich ziehen, der ...«
»Zunächst hat er mir versprochen, übermorgen bei mir zu speisen.«
»Ah! wenn Sie nur wollten, Madame«, flüsterte der Abbé.
»Und was verlangen Sie, das ich wollen soll, Monsieur l'Abbé? Beabsichtigen Sie, mir üble Dinge anzuraten? Ich bin Gott sei Dank neununddreißig Jahre alt geworden, ohne meinen guten Ruf im mindesten zu beflecken. Und wenn es sich um das Reich des Großmoguls handelte – ich würde nichts Ehrenrühriges tun wollen. Wir – Sie wie ich – wissen, was unsere Worte bedeuten. Für einen Geistlichen haben Sie recht unschickliche Gedanken. Pfui! Das ist ja eines Faublas würdig.«
»Sie haben Faublas also gelesen?«
»Nein, Monsieur l'Abbé; ich habe die ›Liaisons dangereuses‹ gemeint.«
»Ah! dieses Buch ist unendlich viel moralischer«, sagte der Abbé lachend. »Aber Sie machen mich so
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