Eugénie Grandet (German Edition)
seinen Besitzungen und Geschäften zu sehen, verweilte Charles bei Mutter und Tochter und genoß die so neue Freude, ihnen bei der Arbeit zuzusehen, ihnen das Garn zu halten und sie plaudern zu hören.
Die Einfachheit ihres fast klösterlichen Daseins enthüllte ihm die reine Schönheit dieser Seelen, die nichts vom lauten Leben wußten, und rührte ihn tief. Er hatte geglaubt, solche Tugenden seien in Frankreich unmöglich, seien überhaupt nur in Deutschland zu finden oder in den Märchen und den Romanen August Lafontaines. Bald erschien ihm Eugénie als der gute Teil von Goethes Gretchen, doch ohne deren Schwächen.
Von Tag zu Tag wurden seine Blicke, seine Worte inniger und entzückten das arme Mädchen, das sich beseligt dem Strom der Liebe überließ; sie griff nach der Glückseligkeit, wie ein Schwimmer den Weidenzweig ergreift, um sich aus dem Wasser zu ziehen und am Ufer zu ruhen. Verdunkelten nicht schon die Kümmernisse einer künftigen Trennung die köstlichsten Stunden dieser enteilenden Tage? Jeder Tag fast brachte ein kleines Geschehnis, das ihnen das bevorstehende Leid ins Gedächtnis prägte.
Drei Tage nach der Abreise des Grassins' wurde Charles von Grandet mit aller Feierlichkeit, die der Provinzler solchen Handlungen gerne verleiht, aufs Gericht geführt, um dort seine Verzichtleistung auf die Erbfolge seines Vaters zu unterzeichnen. O schreckliche Verleugnung! Es war wie ein Abfall von der Familie. Er ging ferner zum Notar Cruchot und ließ dort zwei Vollmachten ausstellen: die eine für des Grassins, die andere für den Freund, den er mit dem Verkauf seiner Einrichtung beauftragt hatte. Dann galt es, die zur Erlangung eines Auslandspasses nötigen Formalitäten zu erfüllen. Und schließlich, als die schlichten Trauerkleider, die Charles in Paris bestellt hatte, eingetroffen waren, ließ er einen Schneider aus Saumur kommen und verkaufte ihm seine überflüssige Garderobe.
Diese Handlung gefiel dem Vater Grandet ganz außerordentlich: »Ah, seht doch! Nun sehen Sie ja wirklich aus wie einer, der ins Ausland geht, um sein Glück zu versuchen«, sagte er zu ihm, als er ihn in einem groben schwarzen Überrock erblickte. »Gut so, sehr gut!«
»Bitte, seien Sie davon überzeugt«, entgegnete Charles, »daß ich über den Ernst meiner Lage völlig im klaren bin.«
»Was ist denn das?« fragte der Biedermann, und seine Blicke belebten sich, als Charles ihm eine Handvoll Goldsachen hinhielt.
»Lieber Onkel, ich habe meine Goldknöpfe, meine Ringe, alles Überflüssige, das ich besaß und das irgendwelchen Wert haben dürfte, zusammengerafft. Da ich aber in Saumur niemanden kenne, wollte ich Sie heute bitten ...«
»Ihnen das abzukaufen?« fiel ihm Grandet ins Wort.
»Nein, mein Onkel, mir einen ehrlichen Menschen zu nennen, der...«
»Geben Sie mir alles her, Neffe; ich werde es Ihnen ganz genau abschätzen und Ihnen auf den Centime genau sagen, wieviel es wert ist. Gold«, sagte er, eine lange Kette betrachtend, »achtzehn bis neunzehn Karat.« Der Biedermann hielt seine breite Hand hin und verschwand mit dem Haufen Gold.
»Meine liebe Cousine«, sagte Charles, »gestatten Sie mir, Ihnen diese zwei Knöpfe anzubieten; wenn Sie sich ein Paar der gegenwärtig so modernen Armbänder aus Seidenband machen würden, so wären die Knöpfe als Abschluß dafür sehr hübsch.«
»Ich nehme Ihre Gabe ohne Zögern an«, erwiderte sie mit einem vielsagenden Blick.
»Liebe Tante, hier ist der Fingerhut meiner Mutter; ich habe ihn stets sorgfältig in meinem Reisenecessaire verwahrt«, sagte Charles, Madame Grandet einen hübschen goldenen Fingerhut anbietend. Sie hatte sich einen solchen schon seit zehn Jahren gewünscht.
»Es gibt keine Worte, Ihnen Dank zu sagen, lieber Neffe«, sagte die alte Mutter, deren Augen sich mit Tränen füllten. »Morgens und abends will ich Sie in mein Gebet einschließen, will für Sie das Gebet für die Reisenden sagen. Wenn ich sterbe, wird Eugénie Ihnen dies Kleinod aufbewahren.«
»Der Wert des Ganzen beträgt neunhundertneunundachtzig Francs fünfundsiebzig Centimes, lieber Neffe«, sagte Grandet wiedereintretend. »Um Ihnen aber die Mühe des Verkaufs zu ersparen, werde ich Ihnen diese Summe in Livres aufzählen.«
Die Bezeichnung ›in Livres‹ bedeutet im Sprachgebrauch des Loiregebiets, daß die Sechslivresstücke als sechs Francs angenommen werden müssen – ohne Abzug.
»Ich wagte nicht, Ihnen das vorzuschlagen«, erwiderte Charles; »aber es
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