Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
schuld.
Ich bin nicht schuld.
Was war das? Etwas in mir leugnet, dass es schuld ist.
Wie kann es das?
Es sagt, ich würde nur mit meiner Schuld kokettieren.
Dies sei meine einzige Schuld.
Das ist nicht gerecht. Ich fühle es wirklich, dass ich schuld bin und bestraft werden muss dafür. Dass ich sterben muss.
Warum tue ich es dann nicht? Warum stehe ich dann immer noch hier, träume nur immer weiter vom Tod, vom Springen in den Abgrund, von dem letzten Ausweg?
Warum will ich immer noch gerettet werden?
Ich bin doch allein. Niemand wird mich retten kommen.
Weil niemand weiß, dass ich hier bin.
Ich müsste nur meine Mutter anrufen. Sie kann noch nicht weit sein, sie ist kurz vor mir aus dem Haus, sie kann mich nicht ganz im Stich gelassen haben.
Ich habe sogar eine Liste von Leuten, die ich anrufen kann. Sie liegt in meinem Tagebuch. In meinem Regal. In meinem Zimmer. Natürlich, hier habe ich keinen Retter. Keinen Helfer. Keinen Freund. Aber zu Hause. Ich müsste nur nach Hause. Und die Psychologin anrufen. Oder den Abtreibungsexperten. Oder die Apothekerin. Oder meine Mutter.
Sie würde weinen, wenn sie mich hier so stehen sehen würde. Wie ich weinen würde, wenn Nadja hier stünde. Wie jede Mutter um ihr Kind weint.
Ich kann nicht sterben. Ich kann nicht springen. Kann nicht.
Es gibt so viele Menschen, die ich anrufen kann, die Apothekerin hat vergessen, sie auf die Liste zu schreiben, Jonas, Tobias, Melanie, meine Mutter, Herrn Bauer, den Kellner vom Factory 17, die alten Damen im Bus und die Frau mit den Keramiktassen und meinen Vater, mein Vater, ich kann doch meinen Vater anrufen, ich habe nie gefragt, ob meine Mutter seine Nummer oder seine neue Adresse hat. Ich habe nie gefragt. Ich kann sie mir doch alle zurückholen, ich kann und darf das, ich darf den Psychologen um Hilfe bitten und den Aspirateur um Geduld und die Apothekerin um eine
Tasse Tee im Hinterzimmer. Ich kann! Ich bin doch stark, ich habe doch schon so viel geschafft, ich habe doch schon fünfzehn Jahre lang gelebt. Ich kann leben. Ich muss leben. Nicht nur für mein Kind oder für meine Mutter, sondern auch für mich. Ich muss leben.
Diesen Teil liebe ich, und ich hasse ihn und liebe ihn doch wieder.
Ein Teil von mir weint.
Weint, weil er nicht weiß, wie er hier herauskommt aus der Glaskugel am Wehr und aus dem Wasser und aus dem Wahn und aus der Idee, dass Sterben leicht ist, weil er nicht wieder leben müssen will und atmen und sehen und hören und fühlen und denken und Mensch sein und reden und lieben und geliebt und nicht geliebt werden müssen will und müssen wollen muss und nicht mehr kann und nicht mehr will und nicht gesprungen ist, nicht springen konnte und schwanger ist und das nicht kann und erst fünfzehn ist und so allein, so unglaublich allein. Und weil er weint, weint er noch mehr, bis er von selbst aufhört.
Und ein Teil von mir kriecht an Land.
Ich kann ihn sehen von hier oben aus, eine Papierprinzessin, die ins Wasser geweht wurde. Es ist aber keine Prinzessin, die da aus dem Wasser kommt, gegen die Strömung ankämpft und mit jedem Schritt Schlamm in den Flussgrund stößt und einzelne Kiesel zurück in die Strömung, wo sie alsbald verschwinden, sondern ein ganz normales Mädchen. Die Haare sind verklebt zu einzelnen Strähnen an ihrer Stirn und zu einem triefenden Knäuel im Nacken. Der Anorak besteht aus zwei Lagen Stoff und einer Lage verfilzter Daunen, Eine Federrüstung, die so schwer ist, so unerträglich schwer,
dass das Mädchen strauchelt und hinfällt. Sie bleibt an der Uferböschung liegen, zwischen Steinen und Blättern und freigeschwemmtem Wurzelwerk. Ihre Finger krallen sich in den sicheren Boden, tief unter ihren Fingernägeln Erde, der Mund öffnet sich, um einem beständigen Strom von Schlammwasser den Weg zu öffnen, über die Mundwinkel läuft er die Kinnstruktur und den Hals hinunter in den Ausschnitt und über die Schlüsselbeine zurück dorthin, wo er hingehört: in den Fluss, den ewigen Fluss. Und während sich der Mund so weitet, schließen sich die Augen langsam. Unter dem verschwommenen Filter der Wimpern sieht sie ihr eigenes Gesicht vorbeitreiben in die unbekannte Ferne und Tiefe und Weite der Möglichkeiten. Es tanzt vorüber und gurgelt, bevor es verschwindet: »Ich liebe mich, Anita.« Aber das kann auch Einbildung gewesen sein. Dieser Teil von mir schläft genau dort und dann ein.
Der letzte Teil steigt einfach von der Brüstung des Wehrs
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