Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Nationalstaaten etabliert, die in gegnerische Bündnisse, Pakte und Abkommen zerfielen; der Völkerbund in Genf stellte sich in den Augen der Verlierer des Weltkrieges, vor allem der beiden Parias der Völkergemeinschaft, Deutschland und Sowjetunion, in erster Linie als Instrument der Siegermächte dar. Kaum eine Grenze, die nicht umstritten war; die Idee der Revanche, der Revision der Pariser Friedensverträge von 1919 herrschte nicht allein bei den Verlierern, sondern auch bei einer Anzahl von Siegern, die sich für zu kurz gekommen hielten: Der Weltkrieg war suspendiert, aber war er schon beendet?
Auf die latent-bedrohliche Bürgerkriegssituation Europas in der Zwischenkriegszeit bot sich dieselbe Antwort an, die schon einmal, im 16. und 17. Jahrhundert, dem europäischen Bürger- und Konfessionskrieg ein Ende gesetzt hatte: der starke Staat, damals der des Absolutismus, nunmehr in seiner zeitgemäßen Variante des autoritären, wenn nicht totalitären Nationalstaates, wie ihn die Theoretiker des integralen Nationalismus im fin de siècle bereits erdacht hatten; der starke Staat, der seine gesellschaftliche Konfiguration in der Mobilisierung der nationalistischen, imperialistischen und militaristischen Massenorganisationen der Vorkriegszeit gefunden hatte, der in den Materialschlachten des Krieges und im Kriegssozialismus seine Bestätigung erlebt hatte und der sich jetzt als das Heilmittel eines nachliberalen, aus der Balance geratenen, schwer kranken Europas anbot. Die Epoche des totalen Staates war angebrochen.
Jetzt war eine Zeit der starken Männer und der nationalen Konzentration gekommen – Italiens Benito Mussolini stand dabei als ein Diktator, den in den ersten Jahren seines Regimes selbst Liberale offen bewunderten, vor jedermanns Augen. Mussolini war der erste europäische Diktator, sieht man von Lenins Herrschaft in Russland ab, aber nicht der Einzige. Auf seinen Griff nach der Macht in Rom 1922 war eine ununterbrochene Reihe von autoritären Umstürzen gefolgt – 1923 in Bulgarien, Spanien und der Türkei, 1925 in Albanien, 1926 in Polen, Portugal und Litauen, 1929 in Jugoslawien und 1930 in Rumänien. Auf die Machtergreifung Hitlers 1933 folgte noch im selben Jahr die Errichtung des Dollfuß-Regimes in Österreich, 1934 wurden Estland und Lettland Diktaturen, 1936 Griechenland
und Spanien. Von den 28 europäischen Staaten waren 1939 nur noch elf demokratisch verfasst.
Dabei ist die Sowjetunion mitgezählt, die nach dem Ausbleiben der Weltrevolution mit Stalins Formel vom »Sozialismus in einem Lande« den eigenen, nationalen Weg zum Sozialismus erklärte und später im Zweiten Weltkrieg den Kampf gegen Hitler-Deutschland als »Großen Vaterländischen Krieg« führte, insofern also ebenfalls ein diktatorisches Regime, das auf nationale Integration setzte. Die Sowjetunion und ihr feindliches Gegenüber im Lager der autoritären und faschistischen Diktaturen fußten zwar auf teilweise gegensätzlichen Ideologien, waren sich aber ähnlich, was die wesentlichen Merkmale realer staatlicher Verfassung anging: Sie alle besaßen eine offizielle, in ihrem Geltungsanspruch totalitäre Ideologie, eine zentralisierte Massenbewegung als Einheitspartei, weiterhin die totale Kontrolle aller Zwangs- und Kommunikationsmittel und schließlich die bürokratische Kontrolle der Wirtschaft mittels Dirigismus, Sozialisierung und Verstaatlichung.
6. Ist der Nationalstaat überwunden?
In Hitlers »Drittem Reich« hat sich gezeigt, wozu der totale Nationalstaat fähig ist, wenn er mit äußerster Konsequenz zu Ende gedacht wird. Das war ganz folgerichtig, denn es lag von Anfang an in der Idee der Nation, sich durch den Feind zu definieren, zu bestätigen und zu rechtfertigen – nationales Selbstbild und Feindbild sind zwei Seiten derselben Medaille. Mit der Totalisierung des Nationalen, seiner Absolutsetzung und Heiligung im integralen Nationalismus und Faschismus und erst recht in dessen letzter und konsequentester Übersteigerung, dem deutschen Nationalsozialismus, wuchs auch der Feind ins Absolute und damit der Krieg, der seit 1939 aus allen Grenzen heraustrat, welche die europäische Zivilisation bisher gezogen hatte.
Das war eine Erfahrung, die das bisher so erfolgreiche Konzept des Nationalstaates nach Kriegsende relativierte und die Suche nach überstaatlichen Alternativen beflügelte. Einschneidender war allerdings die Teilung Europas im Rahmen der amerikanischen und sowjetischen Welthegemonie. Der Druck der
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