Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Geschichte
im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gebahnt von der Idee der mystischen Blutseinheit des deutschen Volkes, die den Zusammenschluss aller Deutschen in einem Staat gebiete, musste deshalb unweigerlich 1945 im Höllensturz des ersten deutschen Nationalstaates enden. Wie Recht hatte doch Ernest Renan gehabt, der 1870, nach der völkisch und historisch begründeten Annexion Elsass-Lothringens durch das Deutsche Reich, einem deutschen Kollegen geschrieben hatte: »An die Stelle von Maßstäben liberaler Politik habt ihr in der Welt solche ethnographischer und archäologischer Politik errichtet. Diese Politik wird euch zum Verhängnis werden (...). Was werdet ihr sagen, wenn eines Tages die Slawen kommen und das eigentliche Preußen, Pommern, Schlesien, Berlin beanspruchen, weil deren Namen slawisch sind, wenn sie an dem Oderufer tun, was ihr jetzt am Moselufer tut, wenn sie an Hand der Landkarte auf Dörfer hinweisen, die einst von slawischen Stämmen bevölkert waren? (...) Deutschland hat ein übermütiges Pferd bestiegen, das es hintragen wird, wohin es nicht will.« 14
Genau so musste es kommen; aber trotz der Lektion von 1945 scheint es, als habe Europa nichts gelernt. Die Kriege und Konflikte Osteuropas werden nach wie vor historisch und ethnisch legitimiert, ob es um die Unterdrückung der albanischen Bevölkerung im Kosovo geht, wo die Schicksalsschlacht auf dem Amselfeld von 1389 angeblich unsterbliche serbische Rechte begründet hat, oder um die Blockade Mazedoniens durch Griechenland, weil Griechenland das Erbe des makedonischen Reiches Philipps II. und Alexanders des Großen für sich allein beansprucht – dabei ist selbst die kulturelle Kontinuität zwischen dem alten Hellas und dem modernen griechischen Staatswesen durchaus zweifelhaft.
Dass das zerstörerische Prinzip der Ethnokratie, des Primates des durch Blutsbande geeinten Volkes, die Demokratie immer noch bedrohen und Europa in neue, schwere Bewährungsproben stürzen kann, beweist der schaurige Massenmord im zerfallenen Jugoslawien. Nicht die Idee der Nation muss in Europa überwunden werden, sondern die Fiktion der schicksalhaften, objektiven und unentrinnbaren Einheit von Volk, Nation, Geschichte, Sprache und Staat. Angesichts der Unmöglichkeit, dieses Vorhaben in der Enge Europas ohne Krieg und dauerhafte Unterdrückung, ohne »ethnische Säuberungen« und Massenmord zu verwirklichen, hat diese Fiktion immer wieder zu der Massenneurose des integralen Nationalismus geführt, zu dem Glauben, dass die Nation den höchsten Wert einer Gemeinschaft darstellen und dass diese Gemeinschaft sich im ethnisch einheitlichen Nationalstaat offenbaren müsse.
Der Blick auf die Wirklichkeit zumindest West-Europas macht im Übrigen sichtbar, dass der Nationalstaat auf manchen Ebenen überholt ist. Von
der Notwendigkeit weit ausgreifender Wirtschaftsräume über Fragen der Verteidigung und der Verbrechensbekämpfung, der Organisation der Verkehrs- und Kommunikationsnetze bis zu den Umweltproblemen haben sich staatliche Institutionen mittlerweile als zu begrenzt erwiesen. Der Nationalstaat, der im vergangenen Jahrhundert als Gehäuse der entstehenden Industriegesellschaft und als Regelmechanismus für deren Konflikte unvermeidlich war, der darüber hinaus den einzigen Rahmen für demokratische Institutionen und Verfassungen bildete, kann heute die Bedürfnisse der Menschen allein nicht mehr zufrieden stellen; andere, weiträumigere Ordnungen müssen hinzutreten.
Und welchen Zweck sollen Staatsgrenzen innerhalb Europas noch haben, wenn die Verfassungsordnungen und die Wirtschaftssysteme einander immer ähnlicher werden? Was bedeutet noch die deutsch-polnische Grenze, wenn Deutsche und Polen hüben wie drüben unter ähnlichen Umständen leben und arbeiten können? Was schon seit langem für die eidgenössischen, elsässischen und badischen Alemannen, was für die dänischen und deutschen Schleswiger gilt, kann auch Wirklichkeit für die deutschen und die polnischen Schlesier, die österreichischen und die slowenischen Kärntner, die griechischen und die jugoslawischen Makedonen, die spanischen und französischen Basken werden: Die kulturelle und wirtschaftliche Einheit der Region kann stärker sein als die trennende Staatsgrenze. Der Nationalstaat ist weniger wichtig geworden; er ist aber noch nicht überflüssig, denn viele seiner politischen und rechtlichen Einrichtungen, von den Verfassungs- und Rechtsordnungen bis zu den
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