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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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aus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland ausschied, und an Island, das 1944 seine Union mit Dänemark auflöste.
5. Die Selbstzerstörung Europas
    Zu den wesentlichen Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der »Urkatastrophe Europas« (Andreas Hillgruber), gehörte ein Geburtsfehler der europäischen Nationalstaaten: Die leitenden Politiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hatten der Versuchung nicht widerstehen können, die nationalbegeisterte öffentliche Meinung für ihre innen- und außenpolitischen Zwecke in Dienst zu nehmen, ob es um die Einigung und innere Konsolidierung der neuen Nationalstaaten Mitteleuropas, um die Überwindung des Schocks der Kriegsniederlage von 1871 im Falle Frankreichs oder um ein innenpolitisch wirksames Druckmittel zur Beförderung der imperialen Ausdehnung wie im Falle Englands und in gewisser Hinsicht auch Russlands ging. Aber das bonapartistische Wagnis Bismarcks, Cavours, Ferrys und Disraelis rächte sich, die plebiszitären Geister des Massennationalismus, die man gerufen hatte, blieben gegenwärtig, nahmen
die Öffentlichkeit in Beschlag und zwangen den Regierenden die politischen Ziele auf: »Aber sehr häufig, meine Herren«, erklärte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor dem Reichstag, »sind die Kriege nicht von den Regierungen geplant und herbeigeführt worden. Die Völker sind vielfach durch lärmende und fanatisierte Minoritäten in die Kriege hineingetrieben worden. Diese Gefahr besteht noch heute und vielleicht heute in noch höherem Maße als früher, nachdem Öffentlichkeit, Volksstimmung, Agitation an Gewicht und Bedeutung zugenommen haben.« 11 Zwei Jahre später war es so weit.
    Nach dem Kriegsende und den Friedensschlüssen von 1919 hatte sich die europäische Staatenwelt grundlegend geändert. Der totale Krieg hatte den totalen Staat hervorgebracht. Nicht nur in den Krieg führenden, sondern auch in den meisten neutralen Ländern übernahm der Staat die Bewirtschaftung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, meist auch die Kontrolle der kriegswichtigen Produktion. Dazu gehörten die Rüstungsindustrien und deren Zulieferer, aber auch das Verkehrswesen – die erste kriegswirtschaftliche Maßnahme Englands wie auch Frankreichs war die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Im Laufe des Krieges gingen die meisten Länder zudem dazu über, die Arbeitsverhältnisse zumindest in kriegswichtigen Bereichen staatlich zu regulieren, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und die Koalitionsfreiheit zu beschränken und die Arbeitgeber dazu zu zwingen, gewerkschaftliche Organisationen als Partner zu akzeptieren, um Unruhen in den Rüstungsbetrieben zu vermeiden und die Produktivität zu steigern. Und dann war da der Krieg selbst, die Rekrutierung von Millionen von Männern und der Ersatz an den zivilen Arbeitsplätzen – meist durch Frauen, wodurch Weichen für neue familienrechtliche Regelungen geschaffen wurden. Die Vergabe gewaltiger Staatsaufträge an die Industrie, die Requirierung von Lebensmitteln, Pferden, Fahrzeugen griffen tief in die Wirtschaft ein, und hinzu kam der ungeheure Anstieg der Staatsausgaben, die nicht mehr nur durch langfristige Staatskredite gedeckt werden konnten, sodass der Geldumlauf anstieg; da gleichzeitig die meisten Güter knapp wurden, ergaben sich Preissteigerungen, die wiederum durch staatliche Preis- und Lohndiktate unter Kontrolle gebracht werden mussten.
    Noch ein weiteres Erbe hatte der Krieg hinterlassen: eine Ideologisierung und Fanatisierung der Öffentlichkeit, wie sie noch nie dagewesen war. Der Krieg war auch ein Propagandakrieg gewesen, der die Menschen daran gewöhnt hatte, das Feld des Politischen in Schwarz und Weiß einzuteilen. Die Ingroup-Outgroup -Mechanismen des Nationalismus hatten während des Krieges zur innenpolitischen Disziplinierung der Staaten gedient; in der
nachfolgenden Friedensphase zahlten die europäischen Völker die Zeche. Die berühmte Prophezeiung des britischen Außenministers Sir Edward Grey (1862 bis 1933) bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich in einem tieferen Sinn erfüllt, als ihrem Urheber bewusst gewesen war: »Überall in Europa gehen die Lichter aus; solange wir leben, werden wir sie nicht wieder leuchten sehen.« 12 Europa war durch das Blutbad des Weltkrieges hindurchgegangen. Anstelle des alten zusammenhängenden ausbalancierten Staatensystems hatte sich eine Vielfalt von

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