Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
während die Großmächte für die Staaten Italiens nicht einmal ein Staatenbündnis zuließen.
Hier bedurfte es blutiger Einigungskriege unter der Führung der regionalen Hegemonialstaaten Preußen und Piemont, um die nationalstaatliche
Einheit herbeizuführen. Für Europa bedeutete die Entstehung des deutschen und des italienischen Nationalstaates Revolution, in eben dem doppelten Sinn, an den die Staatsmänner von 1815 gedacht hatten, als sie in Wien die antirevolutionäre Friedensordnung des Kontinentes beschlossen hatten. Das galt zum einen für das europäische Staatensystem und dessen Balanceprinzip, das auf der Zersplitterung Mitteleuropas beruhte. Die Ratlosigkeit der Kabinette der großen und kleinen Mächte Europas angesichts der nie dagewesenen Machtballung in der Mitte des Kontinentes war groß, in Worte gefasst von dem britischen Oppositionsführer Benjamin Disraeli, der am 9. Februar 1871 vor dem Unterhaus in London erklärte, die Gründung des Deutschen Reiches sei nicht weniger als »die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts (...). Es gibt keine einzige diplomatische Tradition«, fuhr Disraeli fort, »die nicht hinweggefegt worden ist.« 9
Aber nicht nur das Staatensystem Europas war revolutioniert; auch innerhalb der neuen Nationalstaaten war Revolutionäres geschehen: Während in Westeuropa der Staat die Nation verwirklicht hatte, hatte in Mitteleuropa die Nation den Staat verwirklicht. Man hat die Nationalstaatsbildung als »Revolution von oben« beschrieben, als innen- wie außenpolitische Umwälzung durch die führenden Staatsmänner Bismarck und Cavour; Bismarck selbst hat diesen Begriff geprägt. 10 Aber im italienischen Fall wird sichtbar, dass tatsächlich – und das war das eigentlich Beunruhigende für die europäischen Mächte – ein enges Zusammenspiel zwischen dem piemontesischen Ministerpräsidenten und den Kräften der »Revolution von unten« stattfand, nicht nur mit den moderati , zu denen Cavour selbst zählte, sondern auch mit den demokratisch-revolutionären Parteigängern Garibaldis und Mazzinis. Auch für Deutschland kann der Weg zur Reichsgründung als Zusammenspiel zwischen Bismarck und der liberalen Nationalbewegung beschrieben werden.
Mussten in Mitteleuropa die Nationalstaaten, um mit Bismarck zu reden, »mit Eisen und Blut« verwirklicht werden, so stand die Nationalstaatsidee im Osten Europas vollends quer zur bestehenden politischen Ordnung. Der hauptsächlich slawische Osten des Kontinentes kannte weder national akzentuierte, an Verfassungsgrundsätze und Institutionen gebundene Staatsbildungen wie die des europäischen Westens, noch die bunte Vielfalt der kleinen Territorien in Europas Mitte. Osteuropa war der Boden der großen Reichsbildungen, die sich über eine Vielzahl von Völkerschaften wölbten und diese in ein geschichtsloses Halbdunkel zu drängen suchten. Das polnisch-litauische und das schwedische Großreich waren vergangen, aber das osmanische, das russische und das habsburgische Imperium hatten die Umwälzungen
der vergangenen Epoche überstanden und ragten in das beginnende Zeitalter der Nationalstaaten hinein. Diese Reiche waren zentralistisch-bürokratisch regiert, despotisch im türkischen und russischen, rechtsstaatlich-etatistisch im österreichischen Fall, dem sich zeitweise die preußische Monarchie mit ihrem hohen Anteil an polnischen Untertanen anschloss. Für sie, die »Gefängnisse der Völker«, war die Idee der Nation in doppelter Hinsicht existenzbedrohend – zum einen widersprach der Gedanke der Volkssouveränität diametral den ganz in der jeweiligen Herrscherpersönlichkeit konzentrierten Machtstrukturen; zum anderen bedrohte die Forderung der unterdrückten Völker nach eigenen Nationalstaaten den Zusammenhalt der osteuropäischen Reiche, denn sie bedeutete nicht, wie in West- und Mitteleuropa, Veränderung am und im Staat, sondern Rebellion gegen den Staat und Sezession. So ist der gesamte osteuropäische Staatengürtel, von Finnland über die baltischen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Albanien und Serbien, seit 1829 binnen 100 Jahren durch Abspaltung von Großreichen entstanden. Allerdings gab es ähnliche Fälle auch in Westeuropa – man denke an Belgien, das sich 1831 vom Königreich der Vereinigten Niederlande abtrennte, an Norwegen, das 1905 die Realunion mit Schweden aufkündigte, an Irland, das 1922
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