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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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jeweiligen Gegenseite auf das eigene Lager ließ den Hang zur nationalstaatlichen Exklusivität schwinden. Es kam hinzu, dass nach der Explosion der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 und der ersten sowjetischen Atombombe im August 1949 staatliche Souveränität neu definiert
wurde – Handlungsfreiheit im Ernstfall schienen künftig nur noch die Nuklearmächte zu besitzen, während die Souveränität der Staaten Europas allenfalls von der jeweiligen Vormacht abgeleitet war, welche ihren Nuklearschirm über ihrer Interessensphäre aufspannte und die inneren politischen, ideologischen sowie wirtschaftlichen Verhältnisse diktierte, die unter diesem Schirm herrschen sollten. Der traditionelle Selbstbestimmungsanspruch der Nationalstaaten wurde von der bipolaren Politik überlagert, die militärisch, ideologisch und ökonomisch dominierte.
    Innerhalb des sowjetischen Machtbereiches bis zu seinem Zusammenbruch Ende der Achtzigerjahre galt »Nationalismus« als gefährliche politische »Rechtsabweichung«; die pax sovietica beruhte auf dem Prinzip des »proletarischen Internationalismus«, wie es in der Breschnew-Doktrin anlässlich des Einmarsches sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei 1968 definiert wurde. Für die Westeuropäer dagegen schien der Nationalstaat in der langen Nachkriegszeit schon fast überwunden. Die wirtschaftspolitische Integration vertiefte sich Schritt für Schritt, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ursprünglich ein Verein von sechs Staaten – Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg – erweiterte sich um Großbritannien, Irland, Dänemark, Spanien, Portugal, Griechenland, Österreich, Schweden und Finnland. Am Horizont winkte ein unklares politisches Gebilde namens »Vereinigte Staaten von Europa«, eine defensive Idee, entstanden aus Kommunismus-Furcht und Anschmiegsamkeit an die westliche Hegemonialmacht. Dass die Einigung Westeuropas auf völlig anderen Voraussetzungen beruhte als die der Vereinigten Staaten von Amerika 200 Jahre zuvor, wurde selten gesehen; de Gaulles »Europa der Vaterländer« besaß gerade wegen seines realistischen Ansatzes außerhalb Frankreichs wenige Anhänger.
    Die Einigung des freien Teiles des Kontinentes schien greifbar nahe zu sein, und es gehört zu den größten Enttäuschungen der Nachkriegszeit, dass trotz beachtlicher wirtschaftlicher und politischer Integrationserfolge das Prinzip des Nationalstaates unerschütterlich seine Rechte behauptet hat. Und dies umso mehr, als wir heute vor einer Wiederkehr Europas stehen, mit der auch manches wiederkehrt, was bisher mitsamt Alteuropa dem Untergang geweiht schien. Man muss weit in die Geschichte zurückblicken, um einen Moment zu finden, in dem die Lage Europas so ungewiss, die Zukunft des Kontinentes so offen schien wie heute. Fast über Nacht finden wir uns in einer dramatisch veränderten Welt, aus der jahrzehntealte Orientierungsgewissheiten geschwunden sind. Der Eiserne Vorhang, der fast ein halbes Jahrhundert lang den letzten Bezug aller europäischen Politik gebildet hat, ist gefallen, der Geist von Jalta hat sich aus Europa zurückgezogen.

    Kaum war der Druck der Sowjetarmee geschwunden, da stellte Weißrussland Gebietsansprüche an Litauen, zerfiel die kleine Moldau-Republik in Nationalitätenkämpfen, kam es in Siebenbürgen zu blutigen Kämpfen zwischen Rumänen und Ungarn, zerbrach der jugoslawische Vielvölkerstaat im Krieg zwischen Serben, Kroaten, Slowenen und Albanern. Schon vor einigen Jahren sagte Václav Havel voraus, dass die jugoslawische Tragödie im postkommunistischen Europa überall erneut geschehen könne. Nach Jahrzehnten einer fatalen Unterschätzung von Nation und Nationalbewusstsein trifft die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der nationale und partikularistische Bewegungen auftreten, westliche Beobachter wie ein Kulturschock. Selbst eine der verbreitetsten westlichen Annahmen scheint widerlegt: dass der dringende Bedarf an westlichem Kapital und westlichen Investitionen ausreichenden Druck auf osteuropäische Staaten ausüben werde, um nationalistische Ambitionen zu schwächen und sich auf friedliche Weise westlichen Demokratiemodellen anzunähern. In Krisenzeiten können nationale Gefühle sogar stärker sein als ökonomische Interessen. Wir sehen das in unserer Nachbarschaft, im Fall deutscher Investitionen in Tschechien oder in Polen. Tatsächlich hat die relativ starke deutsche Präsenz in beiden Staaten

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