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Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

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Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
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nationalistischen Argumenten Auftrieb gegeben, die sich schädlich auf den Aufbau einer Marktwirtschaft und sogar auf liberale politische Reformen auswirken. Es gibt starke und – angesichts historischer Erinnerungen – auch verständliche Befürchtungen in Polen wie in Tschechien, dass Deutschland seine ökonomische Stärke nutzen könne, um zukünftig die nationalen Eigeninteressen dieser beiden Staaten zu beeinträchtigen.
    Francis Fukuyamas Prophetie vom »Ende der Geschichte« und vom Sieg der westlichen Demokratie über einen »zahnlosen und unbedeutenden europäischen Nationalismus« 13 , wie er es nennt, ist offensichtlich überholt. Zur gleichen Zeit erwachen auch in Westeuropa nationale und regionale Ambitionen, die den Prozess der europäischen Einigung bedrohen – wir haben das zuletzt in der dänischen Reaktion auf Maastricht und in der irischen Reaktion auf Nizza erlebt. Wie sollte die Europäische Gemeinschaft ein gemeinsames politisches Konzept gegenüber Osteuropa entwickeln, wenn sich die alten westlichen zentralisierten Staatswesen selbst mit Unabhängigkeits- oder wenigstens Autonomieforderungen seitens ihrer eigenen nationalen Minderheiten konfrontiert sehen? Die gemeinsame europäische Antwort auf die Jugoslawienkatastrophe ist vor allem wegen der innenpolitischen Probleme ausgeblieben, die sich für Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien mit Irland, Korsika, Katalonien und Südtirol ergeben.
    Gleichzeitig lockern sich die engen sicherheitspolitischen Verbindungen Westeuropas. Angesichts der deutschen Einheit und der unterschiedlichen
nationalen Sicherheitsinteressen, wie sie bereits vor dem Hintergrund des Golf-Krieges sichtbar wurden, tauchen mögliche Bündniskonstellationen aus dem Abgrund der Geschichte unseres Kontinentes auf, die man längst für historisch überwunden gehalten hatte: Der polnische Ministerpräsident beschwört in Paris die alte Freundschaft Polens mit Frankreich, in Planspielen des Londoner Foreign Office feiert die britisch-französische entente cordiale gespenstische Auferstehung und die Chimäre eines erneuten deutschrussischen Bündnisses erschreckt die Leser westeuropäischer Feuilletons. Die öffentlichen Reaktionen auf die Konferenzen von Maastricht und Nizza und zuletzt die gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden haben bewiesen, dass nicht nur die Eigeninteressen der beteiligten westeuropäischen Staaten, sondern auch in den Gesellschaften verwurzelte Traditionen und Instinkte immer noch stark genug sind, um den Prozess der europäischen Integration nachhaltig zu verlangsamen.
    Keine Frage: Das Gift des Massennationalismus, an dem Europa schon einmal fast zugrunde gegangen ist, wirkt immer noch nach. Aber es wäre falsch, dieses Ferment ausschließlich von seiner zerstörerischen Seite aus zu betrachten. Ohne die einigende und mobilisierende Kraft des Nationalismus in den osteuropäischen Ländern wäre die Befreiung vom Kommunismus kaum möglich gewesen. Nationale Selbstbestimmung und der Wechsel von der leninistischen Klassenkampf-Ideologie zum nationalen Grundkonsens stellten das einzige gemeinsame Band dar, das die vielen verschiedenen Gruppen und Interessen in diesen Ländern einigte. In einer Zeit, in der die traditionellen religiösen Glaubensformen ihre Wirkung verloren haben, gibt die Idee der Nation den Menschen im Kampf gegen fremde und despotische Herrschaft nach wie vor einen neuen Glauben und neue Ziele, die ihnen befriedigend, glaubwürdig und sinnvoll erscheinen.
    Nicht die Teilung in Nationen gefährdet Europa, sondern der Drang zu Nationalstaaten für alle noch so kleinen Nationalitäten, in denen die unerfüllbare und chimärische Einheit von Nation, Sprache und Staatsgebiet herbeigeführt werden soll. Die Unmöglichkeit dieses Projektes in der Enge Europas wird zudem noch potenziert durch das Erbe der romantischen Nationalidee Herders oder Fichtes, die sich nicht auf Institutionen und Verfassungen, auf Volkssouveränität und Menschenrechte berief, sondern auf die Geschichte, auf die Sprache, auf die Kultur und das gemeinsame Blut, das in den Adern eines Volkes seit Urzeiten fließe und seine Einheit über die Jahrtausende hinweg verbürge. Dieses Konzept von Nation, das in Mittel-und Osteuropa stärker als die einigende Kraft liberaler und demokratischer Überzeugungen war und oft noch ist, macht Nationalismus erst eigentlich zur zerstörerischen Gefahr für Europa; der Weg der deutschen

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