Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Verwaltungsorganisationen, sind bisher durch nichts ersetzt. Nur der nationalstaatliche Rahmen ist bisher imstande, eine schützende Hülle für demokratische und freiheitliche Institutionen zu sein.
Ebenso wenig wie der Nationalstaat sind die Nationen selbst überwunden. Der Glaube überzeugter Europäer der Vierziger- und Fünfzigerjahre, die Nationen seien lediglich Folge einer überholten Ideologie und könnten beliebig abgeschafft werden, zerschellte an der Realität der bestehenden politischen, mehr aber noch der geistigen Strukturen Europas: Die europäischen Nationen, zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch utopische Gebilde, erweisen sich in der Gegenwart als lebendige kulturelle und geistige Wesen, mehr noch, als Ausdruck jener Pluralität, ohne die Europa sein Wesen verlieren müsste. Robert Schuman, Lothringer von Geburt, Initiator der Montanunion und Vorkämpfer des europäischen Zusammenschlusses, hat bereits in den Fünfzigerjahren deutlicher als viele andere seiner Generation gesehen, dass Europa sich nicht ohne weiteres von seiner Geschichte verabschieden kann: »Die politischen Grenzen waren das Ergebnis einer ehrwürdigen
historischen und ethnischen Entwicklung, eines langen Strebens nach nationaler Einheit; sie abzuschaffen, käme gewiss niemand in den Sinn. Früher wurden sie durch gewaltsame Eroberungen oder einträgliche Heiraten verschoben. Heute genügt es, sie zu entwerten. Unsere europäischen Grenzen sollten den Austausch von Gedanken, Personen und Gütern immer weniger beschränken. Über den veralteten Nationalismen soll in Zukunft das Gefühl der Solidarität der Nationen stehen. Verdienst der Nationalismen war es, den Staaten eine Tradition und eine solide innere Struktur zu geben. Auf diesem alten Unterbau muss ein neues Stockwerk errichtet werden. Das Überstaatliche wird auf nationaler Grundlage beruhen. Somit wird die ruhmreiche Vergangenheit nicht verleugnet, die nationalen Energien werden sich aber durch ihre gemeinsame Verwendung im Dienst der überstaatlichen Gemeinschaft neu entfalten.« 15
Wenn es eine Lehre gibt, die sich aus den zahlreichen Rückschlägen der europäischen Einigungsbemühungen herauskristallisiert, so die, dass die europäische Einigung nur mit, nicht gegen die Nationen und ihre legitimen Eigenheiten vor sich gehen kann, wie auch die Nationen ihrerseits zu lernen beginnen, dass sie keineswegs »eins und unteilbar« sind, sondern dass sie sich aus einer Vielzahl von ethnischen, sprachlichen und regionalen Einheiten zusammensetzen. Als Stufe nach Europa ist der Nationalstaat noch nicht überwunden; wir brauchen ihn noch, doch Ziel und Zweck alles Politischen ist er längst nicht mehr.
Die dauerhafte Einheit der Vielfalt – das ist nicht durch einen zentralistischen, mit allen modernen Machtbefugnissen ausgestatteten Einheitsstaat zu verwirklichen, wie er in der heutigen Brüsseler Kommission mit ihren weitreichenden wirtschaftspolitischen Kompetenzen bereits vorgegeben zu sein scheint. Dauerhaft kann eine europäische Verfassung nur sein, wenn sie mit den Nationen, ihrer langen Geschichte, ihren Sprachen und ihren Staaten rechnet. Zudem sind da die Regionen und Länder, meist ebenfalls aus langen Traditionen erwachsen und zu Heimaten geworden, den Herzen der Menschen besonders nah. Und da sind die Gemeinden, in denen sich das überschaubare alltägliche Leben und die nahe liegenden Entscheidungen abspielen.
All dies kann nur zu einem Ganzen zusammengefügt werden, wenn das künftige Europa im Geist der Subsidiarität errichtet wird, wie dies beispielsweise Joseph Rovan vorschlägt: Ein verhältnismäßig lockeres Staatengebilde aus mehreren politischen Etagen, »in dem nur das an die nächsthöhere Etage abgegeben werden darf, was auf den unteren nicht erledigt werden kann« 16 . Hier kann das Beispiel der deutschen Verfassungsgeschichte Vorbilder liefern, von der kommunalen Selbstverwaltung über das föderalistische Prinzip
bis zu der Einrichtung des Staatsvertrages zwischen den Ländern, der in einem Vereinigten Europa sowohl zwischen den Nationalstaaten als auch zwischen den Regionen abgeschlossen werden könnte. Die europäischen Staats- und Regierungschefs als gemeinsames Oberhaupt, eine aus wenigen Ministern zusammengesetzte europäische Regierung, ein europäischer Bundesrat, in dem die Staaten, vielleicht auch die Regionen vertreten wären, und der das legislative Gegengewicht zum gesamteuropäischen Parlament bildete – alles Figuren, die hier nur
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