Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
lange eine besondere Wirkung besessen: Ihr erster Effekt war weniger die Suche nach hinreichenden Mehrheiten, sondern vielmehr ein verstärktes Bemühen um Konsens und damit um Einstimmigkeit. Der Grund dafür dürfte in der Doppelrolle der Regierungen zu finden sein, die sie einerseits als oberste Exekutive souveräner Staaten interagieren lässt und andererseits als Entscheidungsgremium und Legislativorgan eines in Teilen supranationalen Gebildes zusammenführt. In der Interaktion von Staaten spielen die Grundsätze der Gesichtswahrung und die Überlagerung von Positionsdifferenzen noch immer eine wichtige Rolle. Aus denselben Gründen haben Überlegungen, die Sitzungen des Ministerrates in seiner legislativen Funktion öffentlich zu halten, unter den Regierungen erst im Verfassungsprozess 2003/2004, allgemeine Unterstützung gefunden.
Die Betonung der formalen Gleichrangigkeit der EU-Mitglieder als Staaten findet sich an vielen anderen Stellen des Integrationsgefüges wieder. Zwei Ansatzpunkte sind für die Ausprägung der innereuropäischen Konfliktkultur besonders kennzeichnend, weil sie nicht nur besonders sichtbar sind, sondern auch, weil ihre Anwendung beinahe die Grenze der Dysfunktionalität erreicht hat: Zum einen ist dies das Instrument der Regierungskonferenz als das wesentliche Institut der Integrationsfortschreibung, das mit zunehmender Größe der EU wachsende Schwierigkeit hatte, die Gemeinschaft an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Regierungskonferenzen haben das Vertragswerk der EU zu einem kaum noch durchschaubaren Dickicht wachsen lassen, das von der Eindeutigkeit und Lesbarkeit einer Verfassung weit entfernt ist, obgleich dort verfassungsäquivalente Materien geregelt werden. Innovative Elemente des Integrationsprozesses wie die Europäische Politische Zusammenarbeit, das Europäische Währungssystem oder das Schengener Abkommen sind daher zunächst außerhalb der Verträge entstanden und erst später herangeführt bzw. integriert worden.
Der zweite Fall an der Grenze zur Dysfunktionalität ist die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Sie rotierte lange im Sechs-Monats-Rhythmus unter den Mitgliedstaaten entsprechend dem diplomatischen Alphabet. Erst später wurde ein Tausch innerhalb der Zweiergruppen eines Jahres vereinbart, damit nicht ein Mitgliedstaat stets in derselben Jahreshälfte das Amt übernahm. In den 1990er Jahren erfolgte angesichts der Effizienzverluste im Management der Integrationsgeschäfte eine vorsichtige Korrektur, die unter Beibehaltung des Grundsatzes die Reihenfolge so modifizierte, dass stets ein großer oder ein »besonders erfahrener« Mitgliedstaat (gemeint sind die Niederlande) in der »Troika« der aktuellen, der vorangehenden und der folgenden Präsidentschaft vertreten wahr. 13
Die demokratische Kontrolle von Entscheidungen ist erst mit zunehmender Dichte der Integration zu einem Gestaltungsproblem der Europapolitik geworden. Bis zu seiner ersten Direktwahl 1979 war das Europäische Parlament eine Versammlung nationaler Parlamentarierdelegationen, deren Mitwirkungsrechte begrenzt blieben. In den 1980er und 1990er Jahren erhielt es schrittweise zunehmende Kontroll- und Legitimationsfunktionen im Gesetzgebungsprozess der Integration. Die mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam eingeschlagene Entwicklungsrichtung zielte auf die Herausbildung eines Zweikammersystems ab, in dem in den Kernbereichen der Unionstätigkeit Rat und Parlament gleichermaßen und nahezu gleichberechtigt an der Gesetzgebung der EU beteiligt sind. 14 Als Pendant der Parlamentarisierung sind auch die Bindungen und Schranken anzusehen, welche die Rechte der Bürger Europas anerkennen und schützen sollen. Die Einführung einer Unionsbürgerschaft, die wie im Fall des im Vertrag von Maastricht eingeführten kommunalen Wahlrechtes für EU-Bürger auch die Mitgliedstaaten bindet, die mit dem Gipfel von Nizza erfolgte Ergänzung des Vertrages um eine Grundrechtecharta, der mit Maastricht etablierte Grundsatz der Subsidiarität und die seit dem Vertrag von Amsterdam entstandene Debatte um die Bürgernähe der EU-Politik kompensieren in gewisser Weise das Partizipationsdefizit der Integration. 15
Neben der Begründung genuiner Zuständigkeiten für die Union und der Einführung von Mehrheitsentscheidungen bildet diese Form der doppelten Legitimation europäischen Handelns – einerseits durch demokratisch gewählte und parlamentarisch verantwortliche Regierungen,
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