Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
deren Ausgestaltung gemeinsame Aufgabe aller Mitgliedstaaten ist. Sie kann nicht mit einseitig definierten Programmen, etwa im Bereich der Entwicklungshilfe, verglichen werden. Die Bilanz zeigt jedoch auch Risse und mögliche Bruchstellen der »Kohäsion«. Die Konfliktfinien zwischen Nettozahlern und Empfängern scheinen heute schärfer gezogen als in früheren Phasen, die Beschäftigungskrise verstärkt die Binnenorientierung der einzelstaatlichen Politik, die oft geringe Effizienz des Mitteleinsatzes in den Strukturfonds belastet das Verhältnis unter den Mitgliedstaaten ebenso wie die Anpassungserfordernisse in der Vorbereitung auf die Währungsunion, die in einzelnen Staaten phasenweise weniger als gemeinsame Herausforderung denn als Bevormundung empfunden wurden. Über alledem hängt die Vorahnung künftiger Konflikte: im Wettbewerbseffekt und angesichts der Kostentransparenz des Euro genauso wie in der Konkurrenz um Marktanteile, Standorte und Subventionen im Prozess der Erweiterung. Europäische Politiker und Interessenvertreter spüren, dass die Zeit der allseitig vorteilhaften Kompromisspakete schon bald abgelaufen sein könnte. 11
Im doppelten Systemwandel, der aus der Einführung der gemeinsamen Währung und aus der Transformation Mittel- und Osteuropas entsteht, wird eine Neubestimmung des europäischen Solidarkonzeptes erforderlich werden, um die neue Gewichtung von Leistungsfähigkeit und Bedürfnissen, von Interessen und Zielen europapolitisch zu verarbeiten. Die einfache Verlängerung der bisherigen Solidarstrukturen und ihrer Entscheidungsverfahren wird an der Frustration der Nettozahler und der Konkurrenz der Empfängerregionen scheitern.
Mit dem Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten hat das wirtschaftliche Gefälle weiter zugenommen; die EU steht vor der Alternative, entweder erheblich mehr Mittel aufzuwenden oder aber die Förderung auf die bedürftigsten und einkommensschwächsten Regionen zu konzentrieren. Ein Verteilungskonflikt zwischen dem Süden der EU-15 und dem Osten der erweiterten Union war bereits vor der Erweiterung erkennbar – der Süden beharrte auf der Bewahrung des heutigen Besitzstandes auch zu Lasten der künftigen Mitglieder, während der Osten auf uneingeschränkte Mitgliedschaft drängte, die auch die volle Teilnahme an den innergemeinschaftlichen Transfers einschließen sollte. Die Friedensleistung der Integration wird sich in diesen anstehenden Entscheidungen auch nach innen neu bewähren müssen, da in der öffentlichen Meinung der Unionsbürger keine eindeutige Befürwortung der Hinzunahme weiterer Mitglieder vorherrscht. Gelingt kein Ausgleich, so wird die Solidargemeinschaft der Europäer erodieren; Europa wird in kleine Solidarräume zerfallen und einen Hauptbestandteil
seiner Identität infrage stellen. Das Risiko eines Solidarbruches und der Identitätskrise erfordert mehr als die Reform von Politiken und Finanzausstattung nach dem Muster gradueller Anpassungen. Notwendig wird deshalb die Rekonstruktion europäischer Solidarität im Anpassungs-und Reformprozess der kommenden Jahre werden – je grundsätzlicher die bisherigen Politiken, Programme und Verfahren zu überdenken sind, desto grundsätzlicher wird auch die Neukonzeption des Solidargedankens in der Europäischen Union ausfallen müssen.
6. Rechtsstaatlichkeit, demokratische Partizipation, Konfliktkultur
Nicht minder wichtig als die materielle Seite der Friedensbilanz der Integration erscheint die normativ-institutionelle Dimension der Europäischen Union: Sicher wäre der Zusammenhalt unter den Mitgliedern ohne den gemeinsamen Nutzen des Marktes und die Verteilungswirkungen der EU-Politiken nicht hinreichend, wenn er sich allein auf gemeinsame Normen und Werte stützen müsste. Ebenso sicher erscheint jedoch, dass der friedliche Interessenausgleich ohne die normativ-institutionelle Basis der Integration als Staatenverbund erheblich störanfälliger wäre – und vielleicht bereits dann zerfallen wäre, als die ursprünglichen Antriebskräfte der Integration, die Erfahrung von Machtrivalität, Hegemoniestreben und Krieg ihre einigende Wirkung eingebüßt hatten.
Die Europäische Union, speziell ihr erster Pfeiler, die Europäische Gemeinschaft, hebt sich durch einen wesentlichen Unterschied von anderen internationalen Organisationen ab. Die EG ist als Rechtsgemeinschaft angelegt, 12 ihre Vertragsbasis gilt unbefristet und sieht mit dem Vertrag von Nizza bisher nur den Beitritt, nicht aber ein
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