Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Fähigkeit des Bündnisses, auch einen nuklearen Erstschlag der Sowjetunion mit einem für diese vernichtenden Zweitschlag beantworten zu können. 22 Da die Sowjetunion ihrerseits über starke konventionelle Kräfte verfügte und die Ressourcen ihrer Verbündeten weitgehend nach eigenen Vorgaben in ihr Militärpotenzial integrieren konnte, ergab sich für den Westen die Notwendigkeit der strategischen Integration auf der Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsebene sowie ein andauernder Bedarf an technisch fortgeschrittener Ausrüstung, um so die Nachteile aus den Kräfterelationen, vor allem aber aus der geostrategischen Lage und aus den erwarteten Kriegsführungsszenarien auszugleichen.
Seit die Sowjetunion im nuklearen Wettrüsten der Supermächte eine strategische Parität erreicht hatte und das Territorium der Vereinigten Staaten selbst zerstören konnte, stellte sich zudem die Frage der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Drohung einer »massiven Vergeltung« – ein nuklearer Schlag als Antwort auf einen Angriff der Sowjetunion auf Westeuropa, der die Vernichtung der Vereinigten Staaten riskiert hätte, war unglaubwürdig geworden. Die Antwort der NATO auf die strategische Parität bestand in der Strategie der »flexiblen Antwort«, einer abgestuften militärischen Reaktion mit konventionellen wie mit nuklearen Waffensystemen auf einen Angriff vonseiten des Ostens. Die strategische Herausforderung dieses Konzeptes lag in der Breite der verfügbaren Optionen – glaubwürdig konnte eine derartige Strategie nur sein, wenn sie Eskalationsdominanz sicherte, das heißt so angelegt war, dass jeder begrenzte Einsatz militärischer Mittel eine passende Antwort erhalten konnte und nicht zur Aufgabe oder zu ungewollter Eskalation zwang.
Konsequenz dieser strategischen Grunddispositionen war eine hohe Rüstungsdynamik, eine Modernisierungs- und Dislozierungsspirale, in der auf jede Innovation der einen Seite entsprechende Modernisierungen der anderen zu erfolgen hatten, um die Abschreckung plausibel zu erhalten. Angesichts der technologischen Dynamik wurde Sicherheit durch Rüstung somit zugleich zu einem ständigen Unsicherheitsfaktor: Rüstungskontrolle, mehr noch als Abrüstung, war vor diesem Hintergrund nicht allein und
nicht einmal primär ein Thema von Oppositions- und Friedensbewegungen, sondern Teil des strategischen Kalküls. Seit Mitte der 1960er Jahre verhandelten die Supermächte über eine Kontrolle ihrer interkontinentalen Nuklearwaffen und schufen Instrumente der Krisenkommunikation, wobei jede Seite stets versuchte, ihre jüngsten technologischen Innovationen auszuklammern. Seit 1973 erstreckte sich dieser Ansatz auch auf die in Europa stationierten konventionellen Kräfte und ihre Ausrüstung.
Es liegt in der Natur der Kriegsverhinderung durch militärische Sicherheitsvorsorge, dass ihre Wirkung sich nicht positiv, sondern allenfalls in ihrem Scheitern nachweisen lässt – eine Unsicherheit, die verteidigungspolitische Debatten in Westeuropa immer wieder belastet hat. Mit Öffnung verschiedener sowjetischer Quellen nach dem staatlichen Zerfall der östlichen Supermacht wird erkennbar, dass manche Risikoperzeptionen westlicher Militärplanung übertrieben und der Vorbereitungsstand der Roten Armee schlechter als erwartet war; andererseits bestätigen die Quellen das strategische Kalkül der Sowjetführung zur Führung von Angriffskriegen gegen Ziele in Westeuropa. 23 Insofern stellt sich die Anfang der 1980er Jahre im politischen Dissens von Regierungen und Friedensbewegungen durchgesetzte »Nachrüstung« der NATO auch im Rückblick als berechtigt dar. Sie hatte zudem zwei kaum weniger wichtige Folgewirkungen: Einerseits sprechen manche Äußerungen früherer sowjetischer Politiker für die These, dass der Westen den Osten in die Knie gerüstet habe; andererseits erschloss der Protest gegen die Nachrüstung für die zumeist außerparlamentarische Linke und die Umweltbewegungen ein Verhältnis zu Nation und Staat (»Dies Land ist mein Land«), dessen Wirkungen für die politische Kultur in den 1990er Jahren vor allem für die Bundesrepublik nicht gering zu schätzen sind. 24
Ein mit der Frage der Glaubwürdigkeit eng verbundenes Dilemma des Friedens durch Abschreckung blieb über die Jahrzehnte des Ost-West-Konfliktes die Frage der Kopplung Amerikas an Europa. Ohne sie war Europa unter den damaligen Prämissen der Militärstrategie nicht zu verteidigen. Die Bewahrung dieser Bindung wurde damit zu
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