Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
Vom Netzwerk:
Machtkonstellationen selbst begründet. Den Erfahrungsschatz der Neuzeit prägt die Unfähigkeit der europäischen Staaten, den Aufstieg einer hegemonialen Macht zu verhindern. Seit der Mobilisierung von Volksheeren in der französischen Revolution und der Expansion Napoleons hat zwar kein europäischer Hegemon seine Macht auf Dauer behaupten können, doch ebenso wenig haben sich politisch-institutionelle Vorkehrungen gegen die Vorherrschaft eines Staates als dauerhaft stabil erwiesen – weder die Allianzpolitik Metternichs noch die Gleichgewichtspolitik Castlereaghs, weder der Völkerbund noch die Appeasement- Politik Chamberlains. Je größer die wirtschaftliche Basis und je moderner und technologischer die Kriegsführung, desto stärker wuchs die Abhängigkeit Europas von der Unterstützung durch die Flügelmächte: Hegemoniale Aggression in Europa war, so lautet die historische Lektion, nur durch das Eingreifen äußerer Mächte zu brechen. Auf dieser Grundlage stiegen zuerst die Vereinigten Staaten, dann – nach dem Zweiten Weltkrieg – auch die Sowjetunion zu europäischen Vormächten auf. Dass mit dem Kalten Krieg ein Macht- und Ordnungskonflikt zwischen den Vormächten selbst zur zentralen Konfliktachse Europas wurde, hat diese Logik nicht außer Kraft gesetzt, sondern eher bestärkt. Unter den Staaten Westeuropas wurde infolgedessen die strategische Führungsrolle der
Vereinigten Staaten nicht infrage gestellt – außer von Frankreich, dessen ordnungspolitische Ambitionen in dieser Machtkonstellation keinen hinreichenden Handlungsspielraum fanden. 19 Die nie offen, häufig aber latent präsente Konkurrenz zwischen europäischer und atlantischer Integrationspolitik beruht auf diesem Begründungskontext und reicht bis in die Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam, ablesbar am Dissens der Unterhändler über einen Stufenplan zur Verschmelzung von EU und WEU. 20
    Der dritte ursächliche Faktor steht gewissermaßen in der Konsequenz der beiden Erstgenannten. Während die WEU und die ersten Schritte der wirtschaftlichen Integration die Konfliktachse um Deutschland kontrollierten, wurde die Herausforderung der zweiten Konfliktachse zum Kern der militärischen Integration im Rahmen der NATO. So ließen sich zugleich der regionale Führungsanspruch Frankreichs und die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten institutionell abbilden und Führungskonflikte – zumindest vorübergehend – moderieren. Arbeitsteilung kennzeichnet das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und militärischer Integration jedoch auch in anderer Hinsicht: Der Ost-West-Konflikt war nicht allein ein Machtkonflikt, sondern wurde zum Systemkonflikt, zur Konkurrenz der Gesellschaftsentwürfe und -Ordnungen. In diesem Sinne waren der Marshall-Plan, die Gründung der OEEC, der Vorläuferorganisation der OECD, wie auch die Gründung der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Bausteine der Systemkonkurrenz. Dass die Sowjetunion diese institutionelle Auffächerung in ihrem Block mit Warschauer Pakt und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) fast spiegelbildlich nachvollzog, ist dafür nur ein weiteres Indiz. Im Kern diente die wirtschaftliche Kooperation und Integration im Westen der Festigung von Demokratie und Marktwirtschaft und damit der Stärkung der Legitimität der westlichen Ordnung, der Schaufensterfunktion westeuropäischer Wirtschaften gegenüber dem Osten und, nicht zuletzt, der Kontrolle des Potenzials kommunistischer Parteien in Westeuropa. Integration im Rahmen der EU besaß in diesem Sinne eine eindeutige Funktion im strategischen Konzept der NATO – und dies umso mehr, je mehr die wirtschaftlichen und politischen Elemente des NATO-Vertrages zugunsten der militärischen Aufgaben in den Hintergrund traten.
7.1 Frieden durch Abschreckung
    Den Frieden in Europa hat das auf diesen Grundlagen errichtete System europäischer Sicherheit insgesamt mit Erfolg behauptet, doch es war ein
»kalter Frieden« 21 und in Zeiten der Spannung auch ein prekärer Frieden, dessen militärische und vor allem nuklearstrategische Aspekte Dilemmata der Sicherheitspolitik erzeugten.
    Grundlage des Friedens durch Abschreckung und Abhaltung bildete die Verknüpfung von konventioneller Stärke, amerikanischer militärischer Präsenz mit Bodentruppen – deren Geiselfunktion in der in West-Berlin stationierten Berlin-Brigade ihren sichtbarsten Ausdruck fand – und nuklearer Abschreckung, das heißt der glaubwürdigen

Weitere Kostenlose Bücher