Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
einem strategischen Imperativ, der auch die kontroversen Debatten der europäischen Sicherheitspolitik bestimmte: Würde Europas Beitrag zu seiner Verteidigung – im militärischen wie im politischen Sinne – zu schwach, konnte das Risiko einer strategischen Kopplung für die USA zu groß werden; würde Europas Beitrag dagegen zu stark, konnte dies den Rückzug der Vereinigten Staaten aus der Präsenz auf dem europäischen Kontinent bewirken.
Ein besonderes Dilemma ihrer Sicherheitsstrategie stellte sich daneben für die Frontstaaten des Ost-West-Konfliktes, vor allem für die Bundesrepublik
Deutschland. Die Kriegsszenarien in Europa gingen von einem massiven, mit großer Feuerkraft und schnell vorgetragenen Angriff über die innerdeutsche Grenze nach Westen aus; Deutschland war mithin das Schlachtfeld dieser Szenarien eines Dritten Weltkrieges. Im Westen Deutschlands fehlte die strategische Tiefe, zumal die sowjetischen Truppen die innere und somit kürzere Linie besetzten – selbst ein konventioneller Krieg hätte deshalb die Zerstörung weiter Teile des Landes bedeutet.
Die Konsequenz dieser Lage war zunächst die »Vorneverteidigung« der NATO, eine Konzentration von Truppen entlang der innerdeutschen Grenze und den anderen Frontlinien zwischen Ost und West, und im Anschluss daran die »Vorwärtsverteidigung«, das Konzept der Verlagerung der Kriegshandlungen auf das Territorium des Gegners, in den späten 1970er Jahren ergänzt durch die FOFA-Strategie, 25 die einen raschen Angriff auf die zweite, im strategischen Rückraum dislozierte Welle eines Aggressors vorsah. In diesen Fällen hätten das Gebiet des anderen deutschen Staates und Territorien Mitteleuropas die Hauptlast der Kriegszerstörung getragen. Ähnlich zwiespältige Wirkungen ergaben sich im Bereich der nuklearen Kurzstreckensysteme: Die bodengestützten französischen Systeme, deren Zweck die Abschreckung eines Durchmarsches aus dem Osten nach Frankreich war, hätten nur Ziele in West- und Ostdeutschland erreichen können; die nuklearen Kurzstreckensysteme der NATO hätten vor allem Mitteleuropa, aber auch Ostdeutschland betroffen.
7.2 Frieden durch Entspannung
Die Bilanz des Friedens durch Abschreckung belegt den monozentrischen Charakter des Konzeptes: Die Abschreckung hat den Ausbruch eines großen Krieges zwischen Ost und West in und über Europa verhindert – und verhindert ihn noch heute, obgleich ihn scheinbar niemand mehr führen will, gleichsam als Rückversicherung gegen das Scheitern der Transformation in Russland und das Risiko einer gegen den Westen gerichteten Aggression. Andere Krisen und Kriege hat die Abschreckung nicht verhindert, wenngleich die Zahl der militärischen Konflikte in Europa selten so gering war wie in den Jahrzehnten des Ost-West-Konfliktes. Die Machtrivalität der Supermächte und Blöcke ließ keine militärischen Konflikte im Bereich der Zentralfront zu, wohl jedoch Stellvertreterkriege in anderen Teilen der Welt, vor allem in Asien und Afrika.
Das containment, die Eindämmung der Sowjetunion, deren ursprüngliche strategische Teilstücke neben der NATO der Bagdad-Pakt, die Südostasiatische
Vertragsorganisation (SEATO) und der amerikanisch-japanische Vertrag waren, hat jedoch die gewaltsame Kontrolle politischer Konflikte innerhalb des Ostblockes nicht verhindern können. Die militärische Intervention in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968 wie die möglicherweise präventive Verhängung des Kriegsrechtes in Polen durch den damaligen Präsidenten Jaruzelski 1981 stehen für die »Teilbarkeit« dieses Friedens im Ost-West-Konflikt.
Die Zivilisierung des Konfliktes und damit die Auslotung politischer Optionen des Wandels hatte im Konzept der Abschreckung selbst keinen Platz. Beides war Aufgabe der Entspannungspolitik, die nach dem Harmel-Bericht der NATO von 1967 zur zweiten Säule der Friedenssicherung der alten Ordnung Europas wurde. Auf der Grundlage des strategischen Patts zwischen den Blöcken zielte Entspannung auf die Aushandlung eines Modus Vivendi , der politische Bewegung unter Ausklammerung des fortbestehenden Systemgegensatzes erlauben sollte. Im Mittelpunkt der Entspannungspolitik stand der KSZE-Prozess, der an einer alten Forderung der Sowjetunion auf Anerkennung als gleichwertiger Sicherheitspartner und an der Aushandlung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen ansetzte, diesen Bereich aber mit zwei anderen Körben, Wirtschaft und Handel einerseits und humanitären Fragen andererseits,
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