Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Integrationsprozesses die aufgezeigten Kriterien der Zugehörigkeit zum System der »europäischen« Werte erfüllen.
Der EU-Beitrittskandidat, dessen eventueller Beitritt zu einer intellektuellen Wende in der europäischen Konstruktion führen kann, ist die Türkei. Die Anerkennung der vocation européenne, der europäischen Berufung, der Türkei durch den Europäischen Rat im Dezember 1997 in Luxemburg sowie die zwei Jahre später während des Helsinki-Gipfels getroffene Entscheidung, der Türkei den Beitrittskandidatenstatus zuzuerkennen, waren durch die Notwendigkeit erzwungen worden, eine Kompromisslösung in der Zypern-Frage zu finden. Diese Lösung hatte Griechenland zur Vorbedingung für ihr Einverständnis zur EU-Osterweiterung gemacht. Davon, dass diese Beschlüsse nicht das Resultat einer tieferen Überlegung waren, zeugt die Tatsache, dass sie fast 40 Jahre nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Türkei erfolgten. Während dieser 40 Jahre hatte keiner der politischen Führer des sich vereinigenden Europas eine kohärente Konzeption der Politik gegenüber der Türkei formuliert. Die Perspektive der Mitgliedschaft eines islamischen Landes mit einer Bevölkerung von fast 60 Millionen Menschen zwingt zum Nachdenken und Wirken, auch wenn dabei von einer Zeitspanne von 15 Jahren die Rede ist, umso mehr, als die so genannte road map für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei verkündet wurde und die Verhandlungen im Oktober 2005 aufgenommen wurden. Selbstverständlich kann der Türkei eine »Vorbeitrittshilfe« angeboten und ein screening , das heißt eine Überprüfung des türkischen Rechtes auf seine Übereinstimmung mit dem acquis communautaire , durchgeführt werden, dies löst aber nicht das grundlegende Dilemma der »Integrationsfähigkeit« des Landes. Die Türkei ist, ähnlich wie alle anderen Beitrittskandidaten, verpflichtet, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, insbesondere das erste Kriterium, das vorgibt, die rechtsstaatlichen Grundsätze einzuhalten und die Menschen- und Minderheitenrechte zu achten. Es scheint jedoch, dass die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union unausweichlich ist. Erstens lässt dieses Land einen starken Integrationswillen erkennen, der sowohl von den politischen Eliten als auch von den Wirtschaftskreisen geteilt wird. Trotz aller Schwierigkeit lässt dies die Erwartung zu, dass sich die Philosophie der Machtausübung durch die türkische Regierung ändern wird. Zweitens ermöglicht es die Integration in die Europäische Union, den weltlichen Charakter des türkischen Staates zu erhalten und ihn – wie auch die Südflanke des Kontinentes – vor dem Einfluss des islamischen Fundamentalismus zu bewahren. Drittens spielt die Türkei als regionale Macht und als NATO-Mitglied eine wesentliche strategische
Rolle in der Zeit, in der die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestaltet wird, sowie angesichts der unvorhersehbaren Lage in den südlichen und östlichen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion (Kaukasus, mittelasiatische Republiken). Viertens schließlich wird die Perspektive des Beitrittes der Türkei die künftige Kompromisslösung in der Zypernfrage stärken.
Die konkrete Perspektive der Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union kann jedoch einen »Domino-Effekt« bewirken, das heißt europäische Aspirationen in einer Reihe weiterer Länder wecken, die den türkischen Präzedenzfall zu nutzen gewillt sein werden. Darunter können mehrere Ländergruppen unterschieden werden. Als erste Gruppe sind einige Mittelmeerländer zu nennen, die sich in Anbetracht ihres wirtschaftlichen Interesses auf die – im Falle der Türkei unvermeidliche – Umwertung des europäischen Wertesystems berufen können. Sie dürften auf die Verwerfung des »Erfordernisses« der christlichen Verwurzelung bei potenziellen Mitgliedschaftskandidaten hinweisen (z. B. Israel, Marokko) und danach nachweisen, dass auch sie Erben der antiken Kultur sind.
Die zweite Gruppe bilden die islamischen Länder auf dem europäischen Kontinent – Albanien und Bosnien-Herzegowina. Aufgrund des wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus beider Länder ist die Perspektive ihrer Integration in die Europäische Union so weit entfernt, dass die Erweiterungsstrategen deren kultureller Andersartigkeit keine Gedanken widmen. Die dritte Gruppe bilden die restlichen Länder des so genannten westlichen Balkangebietes, also Kroatien, die Föderative Republik
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