Europa nach dem Fall
nächsten sechs bis neun Jahre stillzulegen, wird seine Abhängigkeit von Importen aus Russland und dem Nahen Osten erhöhen und gleichzeitig die deutschen Industrieproduktionskosten verteuern. Etliche offizielle Kommentare zur europäischen Energiepolitik strotzen vor Begriffen wie »kraftvoll«, »stabil«, »effizient«, »wettbewerbsfähig«, »höchst bedeutsam« und »partnerschaftlich«. Doch insgesamt ist der Fortschritt bei der Verringerung der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit Europas während des nächsten Jahrzehnts nicht ermutigend.
Mit Blick auf die Zukunft gibt es im Grunde drei mögliche Szenarien für die EU: Sie wird auseinanderfallen, sie wird wie bisher »weiterwursteln« oder sie wird eine viel stärkere Einigung und Zentralisierung erleben als in der Vergangenheit. Das »Durchwursteln« ist wahrscheinlich keine ernsthafte Option für die weiteren Jahre, es sei denn, eine Spaltung wird in Kauf genommen, wobei einige Staaten sich aus der EU verabschieden und führende Wirtschaftsmächte darin verbleiben – oder der Euro wird abgeschafft. Doch eine Europäische Union ohne eine gemeinsame Währung wäre keine wirkliche Union zu nennen.
Als die EU gegründet wurde (und insbesondere, als sie erweitert und der Euro eingeführt wurde), erkannten die Gründerväter nicht in vollem Ausmaß die Probleme, die durch die Unterschiede der verschiedenen Wirtschaftsräume, reich und arm, Nord und Süd, geschaffen wurden. Die einzelnen EU-Länder behielten weitgehend ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit bei. Sie konnten praktisch (nicht jedoch theoretisch) Schulden anhäufen und ihre eigenen Steuersätze festlegen (beinahe ein Dutzend Staaten legte einen Einheitssteuersatz fest, was in Frankreich oder Deutschland undenkbar wäre). Führende Banken wurden nicht reguliert, was infolge großer Gier und kleinen Sachverstands wie auch des Verhaltens »knausriger« Regierungen zur Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 führte. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, was von Anfang an hätte klar sein sollen: dass eine wirtschaftliche Union ohne eine weitaus umfassendere politische Union nicht möglich war. Doch das hätte einen Preis verlangt, den viele nicht zahlen wollten – die Aufgabe bisher souveräner Rechte.
Bis 2010 hatte es einige Fortschritte gegeben. Frankreich drängte auf eine allmähliche Einrichtung einer europäischen »Wirtschaftsregierung«, und die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde verkündete, es werde in den EU-Ländern eine viel strengere fiskalische und ökonomische Zusammenarbeit geben. Das bedeutete jedoch eine Verletzung aller bestehenden Regelungen (der Vertrag von Lissabon sieht ausdrücklich keine Rettungspläne für Mitgliedsländer vor), weil dies der einzige Weg zur Rettung der Eurozone war. Ein europäischer Stabilitätsmechanismus wurde als dauerhafter Rettungsschirm etabliert, doch nur unter »strikten Bedingungen«, was hieß, dass den Ländern vorgeschrieben wurde, welche Maßnahmen sie bei den Steuern, den Ausgaben und der Wirtschaftspolitik ergreifen sollten.
Mit einiger Verspätung schloss sich die deutsche Regierung den anderen EU-Mitgliedern an, doch als es um die Interpretation des Begriffs »Wirtschaftsregierung« ging, gab es beträchtliche Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich. Sollten die europäischen Regierungen ihre jährlichen Haushaltsentwürfe vor ihrer Verabschiedung der Zentralregierung vorlegen? Aus dem Lissabon-Vertrag ging nicht eindeutig hervor, ob eine einzelne Regierung überstimmt werden konnte.
Bei alldem erscheint die Entstehung einer europäischen Wirtschaftsregierung nun wahrscheinlich, doch es ist genauso klar, dass es lange Zeit dauern würde, die Rechte einer solchen Regierung auszuhandeln, etwa, wie rasch sie handeln könne, und viele andere wichtige Fragen. Wenn eine solche wirtschaftliche Verwaltung zustande kommen sollte, wäre dies in gewisser Weise eine politische Regierung. Das wäre ein großer Schritt nach vorn, aber wie würde es funktionieren? Stünde diese Regierung nicht vor all den Schwierigkeiten, denen sich eine Koalitionsregierung gegenübersähe, die nicht aus zwei oder drei politischen Parteien, sondern aus 27 besteht? Oder wäre sie unabhängig von den einzelnen Nationalstaaten, was im Augenblick schwer vorstellbar ist?
Im Lissabon-Vertrag vom Dezember 2009 wurden Änderungen dazu eingeführt, wie die Mitgliedsstaaten im Ministerrat abstimmen sollten. Die Stimmabgabe
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